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Lily Roth
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 08.04.2017 um 16:31 Uhr

. . . perfekt . . .

Menschen drängten sich auf den Bahnsteigen, Lautsprecher brüllten, Züge fuhren ein und aus, ein Bahnhof eben. Und mitten im Lärm und Gewühl stand er wie eine menschliche Statue. Unbewegt. Still. Verständnislos.

„Sie werden zurückkommen“, dachte er und versuchte so etwas wie Hoffnung zu spüren, „schon bald.“

Als er das Bahnhofsgebäude verließ wehte ihm ein eisiger Wind entgegen. Achtlos warf er die Zigarette weg, klappte den Kragen seines Wollmantels hoch und zog unwillkürlich den Kopf ein. Er ging an den Taxis vorbei. Den Nachhauseweg würde er trotz Kälte zu Fuß zurücklegen. Er hatte jetzt Zeit. Jede Menge Zeit. Es wartete niemand mehr auf ihn.

„Nein, sie werden nicht zurückkommen“, murmelte er resigniert vor sich hin, „sie haben mich für immer verlassen. Sie hassen mich.“

In seinem Kopf breitete sich ein dröhnender Schmerz aus. Vielleicht würden sie ihn sogar anzeigen, aber das sollten sie besser lassen. Er konnte sich zehn Anwälte leisten, wenn es sein musste. Außerdem – was wollten sie vorbringen ?

„Was wollen sie beweisen?“ spann er den Gedanken weiter, „dass ich sie geliebt und verwöhnt habe? Dass ich alles für sie getan habe?“

Schwankend wie ein Betrunkener überquerte er den Bahnhofsplatz, richtete den Blick stur geradeaus und lenkte seine Schritte in Richtung Angersiedlung. Er achtete weder auf den Straßenverkehr noch auf die Lichter der Ampeln. Ein wütendes Hupen registrierte er nicht einmal.

„Einmal hat sie mir doch tatsächlich damit gedroht,“ ging es ihm durch den Kopf, „s i e mir gedroht, s i e , die Kleine! Lächerlich! Nie im Leben hätte ich das ernst genommen.“

Und doch hatte sie es getan, die kleine Lisa. Die liebe Lisa. Die schöne Lisa.

„Alles hätte sie von mir haben können. Alles.“ dachte er, „Sie sollte doch nur ein wenig nett zu mir sein.“

Im Grunde glaubte er es immer noch nicht. Jeden Moment würde er aus diesem Alptraum erwachen, seine Frau würde neben ihm im Bett liegen, sie würden aufstehen, frühstücken und alles wäre so wie immer, . . .

. . . wie immer, seit fast zwei Jahrzehnten . . .

Damals, kurz nach der Hochzeit, waren er und Maria in die frisch erbaute Angersiedlung gezogen, eine Wohngegend, die sich nur wenige junge Paare leisten konnten. Als nach ein paar Jahren Lisa und Lucy kurz nacheinander geboren wurden waren sie überglücklich. Die Familie war perfekt.

Er lächelte unwillkürlich, während er durch die belebten Straßen seines Wohnviertels ging und an die schönen Zeiten dachte. Es war ein gutes Leben gewesen. Jetzt blieben ihm nur noch alte Fotos und Erinnerungen.

„Gun´Tag, Herr Wenninger,“ schreckte ihn die Stimme seines Nachbarn aus seinen Gedanken.

„Guten Tag“, antwortete er automatisch, „nochmal mit dem Hund raus?“

„Und ´ne Zigarette rauchen“, sagte der Nachbar und blickte sofort traurig drein, „nochmal mein herzlichstes Beileid. Ich kann´s immer noch gar nicht fassen. Es tut mir so furchtbar leid für Sie. Es ist so unfair, so furchtbar, ich weiß gar nicht was ich sagen soll.“

„Ja, unfair,“ wiederholte er fast tonlos, „furchtbar.“

„Meine Frau sagt auch, dass es furchtbar ist. Und überhaupt! Alle fragen sich: warum hat sie das bloss getan? Wo Sie doch die Kinder verwöhnt haben wie keiner von uns. Die hatten doch alles,“ ereiferte sich der Nachbar, „jede freie Minute haben Sie mit den Mädels verbracht. . . . Es tut mir ja so leid . . . für uns waren Sie immer der ´Superdad´ . . .“

Er ließ seinen Nachbarn einfach weiter reden und wandte sich seinem Haus zu. Wie in Zeitlupe sperrte er die Eingangstüre auf und schlich hinein. Dunkelheit und Stille umgaben ihn. Wie durch dicken Nebel bewegte er sich ins Wohnzimmer, machte nicht einmal Licht an. Er fühlte sich müde und schwer.

„Ja, der ´Superdad´. Der perfekte Vater. Das perfekte Leben. Die Vorzeigefamilie. Ich habe dich geliebt Lisa, mehr als alle anderen.“

Stöhnend ließ er sich in den Wohnzimmersessel fallen.

„Warum hast du mir das angetan?“

Jede freie Minute hatte er mit seinem Nachwuchs verbracht. Er hatte häufiger als andere Väter mit seinen Kindern gespielt, ihnen Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, solange sie klein waren, Urlaube gemacht und Ausflüge unternommen, als sie größer wurden. Niemand hatte verstanden warum Lisa plötzlich immer ruhiger, zurückgezogener und schließlich depressiv wurde. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen.

Sie hatte die Schlaftabletten geschluckt nachdem er bei ihr gewesen war. Nachts um drei. Wie so oft. Seit sie zehn war.

Sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hatte geschwiegen. Wie versprochen.

Brave Lisa. Liebe Lisa. Schöne Lisa.

Nach dem Begräbnis hatten Maria und Lucy die letzten Koffer gepackt. Mit dem nächsten Eilzug waren Mutter und Tochter in ihr neues Leben gefahren. Sie hatten sich seltsam schwerelos gefühlt, als würden sie irgendwo im Weltraum treiben, fernab jedes bewohnbaren Planeten.

Keine Flucht – nein – unmöglich – nur der Beginn einer langen Reise.

Wortlos hatten sie den Ehemann und Vater am Bahnsteig zurückgelassen.

Das perfekte Schweigen.

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