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Literaturforum: 9. Der Hochmut und die Eitelkeit und das Understat


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 Thema: 9. Der Hochmut und die Eitelkeit und das Understat
raimund-fellner
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 06.04.2013 um 05:59 Uhr

9. Der Hochmut und die Eitelkeit und das Understatement (Aus "Lange Haare")

Raimund strebte nach Großem. Das war ihm von Kindheit an von seinen Eltern eingepflanzt. Er war weder in der in der Schule besonders großartig, noch besonders sportlich, noch besonders reich, noch besonders schön. Woraus sollte er seinen Selbstwert beziehen? Mittelmäßig zu sein, machte ihm Minderwertigkeitsgefühle. Um diese Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, bemühte er sich um Größe, was sich zur Megalomanie auswuchs. So hatte er sich in früher Jugend vorgenommen, unermesslich reich werden zu wollen, die Macht des Geldes auszunutzen, alle Menschen, die käuflich sind, zu kaufen in dem vagen Ziel in unbestimmter Ferne, irgendwann einmal die Welt wirtschaftlich zu beherrschen, um sich nicht mehr minderwertig vorkommen zu müssen. Dieses Vorhaben wandelte sich mit den Bedenken, Erfahrungen und Hindernissen, die sich einstellten.
Denn bei diesem Vorhaben, reich werden zu wollen, geriet er immer wieder vor die Entscheidung entweder Freiheit und wenig Geld oder viel Geld und Unfreiheit, denn die einträglichen Berufe wie Manager, Banker, Arzt, Richter oder Rechtsanwalt hatten alle ein unfreies Berufsbild in der Kleidung und im Verhalten. So war in diesen Berufen, je höher die Stellung, die Spießerkleidung von Anzug und Krawatte „angesagt“, wie der vielfach verwendete Spießerausdruck in den 1980er Jahren hieß. Beim Verhalten wurde geradezu ein konventionell normengerechtes institutionalisiertes Verhalten gelehrt und gefordert. Normopathisch hatten diese Leute zu funktionieren. Als Entschädigung für ihre Zwangsjacke bekamen sie bei Weitem mehr Geld, als sie brauchten. Bei den anderen Leuten waren sie angesehen, geachtet und bewundert, vielleicht auch deswegen, weil ein gewöhnlicher Mensch nicht fähig war, diese Zwänge zu ertragen.
Immer wenn Raimund die drängende Forderung vor sich sah, sich anzupassen an diese Konventionen, um den Weg zu einem Spießerberuf einschlagen zu können, damit er an Geld käme, hielt ihn das Ideal seiner Liebe zu Bea zurück. Denn Bea liebte das Understatement, mehr zu sein, als zu scheinen. Sie war immer in derselben Kleidung, in Jeans und T-Shirt. Im Winter war sie im weiten Pullover und hatte sie immer denselben felligen Stoffmantel an. Sie schminkte sich nicht und hatte stets offene Haare. Weil der Inhalt, ihr Leib, köstlich war, hatte sie es nicht nötig mit der Verpackung, der Kleidung, sich herauszuputzen. Auch mit ihrem Busen gab sie nicht an. Sie reckte einem nicht ihren Busen entgegen, nicht korsettiert, nicht mit Büstenhalter hochgeschnallt, so wie es vor allem ab Ende der 1990er Jahre üblich war. Ihr Reiz war da, wo er sein sollte, nämlich zwischen den Beinen. Das machte ihre Anmut. Sie war das Gegenteil von eitel. Sie bildete sich nichts auf ihre Schönheit ein. Und trotzdem hatte sie eine Menge Verehrer, ganz im Gegensatz zu Raimund, der auch darum seine Minderwertigkeitsgefühle hatte.
Das Vorbild seiner Liebe hielt ihn auf dem engen schmalen mühsamen Pfad der Tugend, immer vor Augen, dass, wenn er die Anpassung zu einem Spießerberuf vollzöge, er Bea und damit sich selbst untreu wäre. So legte er vor allem Wert auf Sein, auf Geistesbildung, und mied den hohlen eitlen Schein. Er suchte von innen nach außen zu wachsen. Äußerlich wollte er wie Bea das Understatement leben, ein Wert, den sie ihm nahegebracht hatte. Mit dem Understatement könnte er den reichen Spießern eins auswischen, wenn er diese nicht nur an Geistesbildung, sondern auch an Geldvermögen überträfe. Wenn er reich und frei wäre im Gegensatz zu den eingezwängten wohlhabenden Normopathen. Er träumte davon, hohe Ziffern auf dem Bankkonto zu haben, im Lebensstandard aber nicht anders zu leben als jetzt.
Wie war es nur möglich, ohne den konventionellen und eitlen Schein reich zu werden? Es musste dazu einen Weg geben. Der einzige für ihn machbare Beruf, der ihm seine Freiheit ließ, war Schriftsteller, musste er immer wieder erkennen. Als Schriftsteller konnte einer möglicherweise reich werden. Jedoch nur dann blieb die Freiheit erhalten, wenn er keine Zugeständnisse machte. Er wollte auf keinen Fall seichte, populistische Literatur schreiben, sondern wahrhaftige und wertvolle. Es ging nicht darum Bestseller zu landen, sondern Longseller. Nicht Literatur die heute „in“ und morgen vergessen ist, sondern die ihre zeitlose Gültigkeit hat, denn vermutlich hat der Longseller „Goethe“ mehr Geld gemacht als so manche Bestseller-Eintagsfliege. Also auch mit guter Literatur war Geld zu machen, musste er daraus folgern.
Den Wert des Understatements hatten freilich nicht alle Leute seiner Generation, obgleich es ein Wert der Hippiegeneration war. Da gab es Erlebnisse, unter denen er litt. So jenes beispielhafte Erlebnis als er junge Leute in seinem Alter miteinander sprechen hörte in der Untergrundbahn: „Dazu bin ich jetzt nicht angezogen. Ich fahr noch nach Hause. Da zieh ich mich besser an.“ Das sagte einer mit kurzem Normschnitt, der sowieso schon in spießiger Aufmachung war. Da war er nicht der einzige, der sich in die spießigen Konventionen schickte, anstatt nach Beas und Raimunds Hippie-Ideal bei jeder Gelegenheit gleich locker und ungezwungen gekleidet zu sein. Wenn es viele derartige Leute, wie diesen anpasslerischen Spießer gab, und es gab sie haufenweise, dann würde sich die Freiheit in der Erscheinung nie durchsetzen, musste Raimund schmerzhaft denken.
Noch hatte Raimund kein Selbstwertgefühl, denn er hatte noch nichts Beachtenswertes zustande gebracht, das ihm ein Sein gegeben hätte, um das sich ein Selbstbewusstsein aufbauen konnte. So fühlte er sich minderwertig gedrückt, wenn ein arroganter Spießer seiner Generation in gepflegter gestylter Aufmachung hochnäsig auf Raimund herabsah, wenn er Raimund in seiner abgerissenen Art in der Untergrundbahn sitzen sah. Da war freilich die Versuchung für Raimund groß ebenso einen eitlen Schein zu stylen, mit dem sich so manche seiner Generation in den 1980er Jahren umgaben. Wenn schon kein Sein vorhanden war, so gleißte wenigstens der beeindruckende Schein. Und nach der Ideologie der 1980er Jahre schuf dieser eitle Schein das Sein, war der Schein geradezu das Sein. Das Äußere füllte die innere Hohlheit, während hingegen Raimund das Innere gestalten und füllen wollte, um von innen nach außen zu wachsen.
Das war freilich Gesellschaftskritik, wie das die 1968er nannten, aber eigentlich tadelnde Kritik an den Fehlern der Mitmenschen, denn wer soll schon die Gesellschaft anders sein als die Mitmenschen, die Zeitgenossen, die Raimund umgaben, mit denen er zu tun hatte. Und die hohle Eitelkeit der Menschen ist zeitlos, die gab es schon immer, nur ihre Erscheinungsformen sind der Mode unterworfen. Zu diesen Schlüssen kam Raimund in mühevollem, langsamem, brütendem Denken, mit dem er sein schmerzliches Gefühl aufarbeitete. Er war das viel geplagte und verspottete hässliche Entlein aus dem ein Schwan werden sollte, wie das Märchen von Christian Andersen bildhaft ausführt, so hoffte er und gab diese Hoffnung nie auf.


Raimund Fellner
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