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Literaturforum: Ausbruchsversuche


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Forum > Prosa > Ausbruchsversuche
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 Thema: Ausbruchsversuche
1943Karl
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 10.01.2009 um 17:07 Uhr

Bereits in der Schule meinten die meisten seiner Lehrerinnen und Lehrer: Der Junge muss mehr aus sich heraus. Aber es gab auch Schulpädagogen, die froh waren, dass er in sich blieb und ihren Unterricht nicht störte. Allerdings beschwerten sich alle regelmäßig darüber, dass er viel zu leise sprach.
Mit dreiundsechzig nahm Christian Schwab schließlich an einem Senioren-Theaterprojekt teil. Wild gestikulierend flehte ihn Frau Labrecht, Theaterpädagogin und heilpraktische Psychotherapeutin mit tizianroter Kurzhaarfrisur an: „Reden Sie laut und deutlich und kommen Sie endlich richtig aus sich raus!“
Genau. Richtig will er, genau richtig aus sich rauskommen.
Der Theaterkurs brachte Schwab nicht den ersehnten Ausbruch. Im Gegenteil. Als Lichtregieassistent blieb er in dem Stück „Die Ausbrecher“ ein Unsichtbarer, der ausbrechenden Seniorinnen und Senioren ins rechte Licht rückte. Und je mehr die alten Ausbrecher ihre Theatertalente offenbarten, desto mehr Applaus ernteten sie. Schwabs Licht wurde als selbstverständlich hingenommen und nicht einmal beklatscht. Einen Teil des Schlussapplauses konnte er vielleicht für sich verbuchen. Ansonsten ging der Beifall mit drei Vorhängen an alle Akteure und brandete besonders auf, als sich die Hauptdarsteller verneigten oder jene an die Rampe traten, die besonders viel zum Lachen geboten hatten.
„Sie haben Hemmungen, nichts als Hemmungen!“ behauptete Frau Labrecht. „In Ihrem Alter können sie doch vollkommen schamlos werden. Welche unangenehmen Folgen Ihres Verhaltens fürchten Sie? Irgendwann werden Sie auf dem Sterbebett grollen, weil Sie nichts ausprobiert haben. Gehen Sie volles Risiko. Mehr als tot schämen geht sowieso nicht.“
Von wegen. Laut Lichtregieanweisung hatte Schwab eine mutige Seniorin beim angedeuteten Striptease dezent rot zu beleuchten. Er präsentierte sie in grellweißem Licht, das jede ihrer zahlreichen Hautfalten gnadenlos mit Schattenwurf hervorhob. Nach der Vorstellung brachte ihm das eine kräftige Ohrfeige der Faltenreichen ein. Und Frau Labrecht degradierte ihn zum Eintrittskartenverkäufer. Natürlich stimmte die Kasse bei der Endabrechnung nicht. Um sich weitere Peinlichkeiten zu ersparen, steuerte er die fehlenden 41 Euro 72 aus eigener Tasche bei. Bei den nächsten drei Vorstellungen hatte er Kosten in ähnlicher Höhe. Am Ende brachte ihm der misslungene Ausbruchsversuch Kosten von 200 Euro für die Senioren-Theaterkurs-Teilnahme sowie insgesamt 335 Euro 27 ein und darüber hinaus die Verachtung der gesamten alternden Theatertruppe.
Frau Labrecht jedoch verabschiedete ihn lächelnd mit pädagogisch wertvollen Ermunterungen: „Geben Sie nicht auf! Denken Sie immer daran, allzu viel Lebenszeit wird Ihnen nicht bleiben. Nur Mut zum Risiko und zur Blamage, mein Lieber! Also, werden Sie etwas unternehmen?“
Schwab räusperte sich. „Ja, Frau Labrecht.“
„Lauter, mein Lieber!“
Er holte tief Luft. „Ja, Frau Labrecht.“

Nicht von ungefähr rühren ihn Filme und Theaterstücke, deren Darsteller zunächst verkannt und am Ende doch noch anerkannt werden, unweigerlich zu Tränen. Selbst bei noch so rührseligen Schmachtwerken.
Obwohl er schon unter seniler Bettflucht litt, flüchtete Schwab in den folgenden Wochen selten aus der Federbetthöhle. Er blieb liegen und grübelte.
Wenn seine Frau am Nachmittag von ihrer Büroarbeit nach Hause kam, scheuchte sie ihn aus dem Bett und bei ihren Unterhaltungen, die sie ohnehin beinahe ausnahmslos allein bestritt, beschwerte sie sich über seine leisen undeutlichen Antworten. Er verstieg sich zu dem Verdacht, sie würde inzwischen zur Schwerhörigkeit neigen. Doch seinen Verdacht äußerte er nicht.
Heute Morgen wäre wenigstens einer von ihm am liebsten liegen geblieben. Ein Bein wollte laufen. Das andere versuchte hinterlistig, das eine über sich stolpern zu lassen. Obwohl statistisch die meisten Unfälle in der eigenen Wohnung passieren, kam er unbeschadet ins Bad und von dort an den Frühstückstisch.
Er wollte viel und herzhaft essen, bekam aber nicht mehr als ein Brötchen herunter und schlug schließlich die Zeitung auf.
Das stand es: Die Stadtverwaltung brauchte Geld und hatte, hinterhältig wie Bürokraten sein können, eine Verordnung gegen Wildpinkler erlassen, die sich von Mitarbeitern eines extra dafür eingerichteten Ordnungsdienstes erwischen ließen. An die war dann ein Bußgeld von mindestens 20 Euro zu entrichten. Und die Kommunalpolitiker ließen sich noch dafür feiern, mit dem Ordnungsdienst zusätzliche Arbeitsstellen geschaffen zu haben.
Nun ist Schwab altersbedingter Wildpinkler. Sein Harndrang lässt ihn immer häufiger die nächste öffentliche Toilette nicht mehr rechtzeitig erreichen. Zudem sind öffentliche Toiletten in der Regel in wahrlich beschissenem Zustand. Und für das Tragen von Seniorenwindeln konnte er sich noch nicht erwärmen.
So ist er in der Stadt ständig auf der Suche nach versteckten Ecken, in denen es ohnehin schon nach Ausflüssen anderer Wildpinkler stinkt. Vermutlich wird genau dieser Geruch die Mitarbeiter des Urinierverhinderungsdienstes anlocken.
Entschlossen stand er vom Frühstückstisch auf und verließ, ohne vorher zur Toilette zu gehen, seine Wohnung. Nach wenigen Metern stellte sich bereits unterhalb seines Bauches jener Druck ein, der erfahrungsgemäß nach wenigen Minuten zum Überdruck wird.
Da er manches Mal auf dem Weg nach Hause es nicht bis zur wohnungseigenen Toilette schaffte, suchte Schwab nicht selten gut hundert Meter vor dem Haus einen Park auf. Dort hinter einem kleinen Gebäude, das den Elektrizitätswerken für die Stromversorgung irgendeinen Dienst erweist, erleichterte er sich.
Zielstrebig ging er auf den Park zu, öffnete bereits vor dem Elektrizitätshäuschen den Reißverschluss und begann auszupacken, bevor er die Rückwand des Häuschens erreichte.
Beinahe hätte Schwab ihn umgerannt. Wie von Männertoiletten gewohnt, stellte Schwab sich neben ihn und pinkelte gegen die Backsteinwand. Sein Mitpinkler begann gerade mit dem Einpacken, ging aber nicht sondern blieb neben Schwab stehen.
Nachdem der seinen Hahn geschüttelt und eingepackt hatte, stellte der Mann sich Schwab in den Weg.
„Wissen Sie eigentlich, neben wem Sie wild gepinkelt haben?“ Er holte aus der Innentasche seiner Jacke einen Quittungsblock sowie einen Ausweis, räusperte sich und versuchte, seine Stimme amtlich klingen zu lassen. „Ich muss Ihnen zwanzig Euro abnehmen!“
„Aber Sie haben doch gerade auch hier gepinkelt!“
„Noch nie etwas von einem verdeckten Ermittler gehört?“
Schwab holte tief Luft. Der scharfe Uringeruch stach ihm in die Nase. „Sie als Geschlechtsgenosse verraten mich bei einem unserer männlichsten Bedürfnisse. Und das mit einer Hinterhältigkeit… !“
„Nun brüllen Sie mal nicht gleich so.“ Der Mann schlug die Augen nieder und begann kleinlauter zu fragen: „Sind Sie mit zwanzig Euro einverstanden?“
„Nein!“
„Dann muss ich Sie anzeigen!“
„Zuhause darf ich nicht im Stehen pinkeln. Das verbietet mir meine Frau. Aber mein Sohn und ich, wir haben öfter heimlich im Stehen gepinkelt. Und ging was neben das Becken, hat derjenige, der die Tropfen entdeckte, sie klaglos weggewischt. Das war Ehrensache.“
„Nun brüllen Sie doch nicht so!“
„Ich brülle, wenn ich brüllen will.“
Erst jetzt sah Schwab, dass der Mann eine uniformähnliche Jacke trug. An der Brusttasche prankte ein Messingschild mit seinem Namen. Labrecht.
Schwab begann zu lachen. „Christian Schwab ist mein Name. Erzählen Sie bitte Ihrer Frau, dass ich Sie laut angebrüllt habe, sehr laut.“
Labrecht grinste verlegen. „Meine Frau meinte vor drei Jahren, aus unserer Ehe ausbrechen zu müssen. Sie will mich nicht mehr sehen. “


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 12.01.2009 um 22:31 Uhr

Erinnert mich an die frühe Prosa von Wilhelm Genazino. Und das meine ich ausdrücklich als Kompliment!

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1943Karl
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451 Forenbeiträge
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 13.01.2009 um 13:49 Uhr

Lieber Matthias,
für dein Kompliment bedanke ich mich herzlich. Ich habe mich sehr darüber gefreut.
Gruß
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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JH
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 16.01.2009 um 01:32 Uhr

Matze, du hast Genazino gelesen? Was ist deine
Meinung zur Abschaffel Trilogie?
Ich hatte mal Briefkontakt mit Genazino und
halte seinen Brief in Ehren, zusammen mit meinen
Texten in einem Ordner.


MASSONI
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Matze
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 16.01.2009 um 05:48 Uhr

Zitat:

Matze, du hast Genazino gelesen? Was ist deine
Meinung zur Abschaffel Trilogie?

Erschütternd präzise gearbeitet!

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