|
Literaturforum:
Ein Held bei Flaubert: Dussardier
Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Ein Held bei Flaubert: Dussardier
|
Autor
|
|
Thema: Ein Held bei Flaubert: Dussardier
|
ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 29.12.2015 um 17:33 Uhr |
Mit seiner „Éducation sentimentale“ hat Flaubert einen der ersten Desillusionsromane geschrieben, wohl auch den bedeutendsten des 19. Jahrhunderts überhaupt, mit Ausstrahlung auf das gesamte 20. und noch darüber hinaus. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das Werk bei seinem Erscheinen fast nur negative Kritiken erhielt und sich erst allmählich durchsetzen konnte. Zum Teil mag es am Titel gelegen haben, den man vor allem ironisch aufzufassen hat. Was auf Deutsch mit „Erziehung des Herzens“ oder „Lehrjahre des Gefühls“ wiederzugeben versucht wurde, das hat schon im Original irrige Erwartungen wecken müssen. Ironie im Titel ist eine zweischneidige Sache, denn ein voreingenommener Leser kann sich bei der Lektüre leicht betrogen fühlen. Tatsächlich endet dieser Erziehungsroman so fatal wie möglich. Frédéric Moreaus Erziehung durch das Leben läuft bei durchweg glänzenden Voraussetzungen – bezüglich Vermögen, Geistesgaben, Empathie und Attraktivität – vollkommen ins Leere. Nach Jahrzehnten rastloser Aktivität ist er ein Gescheiterter, allerdings auf die am wenigsten glanzvolle Weise – er ist allmählich ein abgestumpfter kleiner Rentier geworden, dem fast alles zerronnen ist. Flaubert bietet auf dieses Ende hin das meiste von dem auf, was das 19. Jahrhundert an groß gedachten und groß zu erlebenden Aktionen zu bieten hatte: Amouren, Erbschaften, Börsenspekulationen, Konjunktur der Künste, ein Duell und eine Revolution. Im Ineinandergreifen von privatem Leben und historischem Prozess schreitet dieser Roman unerbittlich voran wie eine antike Tragödie, nur dass die Abläufe hier zumeist so bürgerlich-läppisch sind, dass sich keine irgendwie erhebende Wirkung einstellen kann – und auch nicht soll! (Wenn z.B. ein Cisy sich duelliert, wird er vor Angst ohnmächtig und ritzt sich im Fallen an einem Strauch. Blut ist damit geflossen, Genugtuung erfolgt.)
Die Literaturgeschichte hat Frédéric immer wieder den Prozess gemacht und ihn für einen lebensuntüchtigen Romantiker erklärt. Sie hat sich regelrecht auf ihn eingeschossen und behandelt seine Mitwelt gern nur am Rande, als verstärkende Staffage. Man kann es auch anders sehen: Ist in der Gesellschaft seiner Zeit ein anderer Frédéric Moreau überhaupt vorstellbar? Widmen wir uns also der Frage nach Solidität und Lauterkeit der Charaktere der weiteren Figuren im Roman. Berücksichtigt man dabei nur diejenigen, die regelmäßig auftreten und das Netzwerk bilden, das die Handlung trägt, so kommt man auf ihrer achtzehn. Unter ihnen gibt es wohl Unterschiede in der Bedeutung, doch keine einzige gewinnt den Rang einer weiteren Hauptperson, nicht einmal Frau Arnoux. Frédéric ist von lauter Nebenfiguren umgeben, die oft gegeneinander agieren und sich damit um nachhaltigen Einfluss auf den Helden bringen.
Zunächst: Es gibt keinen Vater. Er ist vor Frédérics Geburt gestorben und wird nur einmal erwähnt, im Zusammenhang mit den bescheidenen Vermögensverhältnissen der Mutter. Sie agiert materiell mit großer Klugheit, verschafft sich Prestige in der Kleinstadt Nogent. Und: „Frau Moreau nährte in ihrer Seele einen stolzen Ehrgeiz für ihren Sohn.“ Also darf er in Paris studieren, womit sie jeden Einfluss auf ihn verliert. Ihre Bedeutung ist so gering, dass wir bei Romanende nicht einmal erfahren, ob sie noch lebt. Lange vorher war sie unter den Einfluss ihres Nachbarn Roque geraten – „er hatte Frau Moreau zumal durch die Hoffnung auf den Grafentitel (d.h. für Frédéric) gewonnen.“ Roque betreibt für den Pariser Kapitalisten Dambreuse unsaubere Hypothekengeschäfte in der Provinz, wird unter Louis Philippe selbst reich und erschießt 1848 einen der Aufständischen, die in den Tuilerien eingekerkert sind. Vergeblich dient er seine Tochter Louise Frédéric zur Frau an. Sie ist im Roman nur skizziert als naive, temperamentvolle junge Frau. Unglücklich verheiratet brennt sie später mit einem Sänger durch.
Frédéric hat das Ehepaar Arnoux schon zu Beginn seiner Pariser Jahre kennengelernt. Arnoux ist erst Kunsthändler und Verleger, dann Fabrikant von Fayencen und führt zuletzt ein Devotionaliengeschäft. Er ist im Auftreten nicht unsympathisch, nur hat er zu viele Charakterfehler. Als Privatmann ist er roher Genussmensch und wird als leichtsinniger Geschäftsmann zwangsläufig Bankrotteur. Von ihm heißt es: „Er diente der Emanzipation der Künste, das heißt, der billigen Verkitschung des Schönen.“ Und: „ … seine Intelligenz war weder hoch genug, um bis zur Kunst zu reichen, noch bürgerlich genug, um nichts als Profit zu erstreben; und da er so niemanden zu befriedigen vermochte, wurde alles, was er machte, notwendig sein Ruin.“ Seine intelligente Frau ist ihm charakterlich weit überlegen und hält allen Enttäuschungen zum Trotz immer zu ihm. Etwa zehn Jahre älter als Frédéric wird sie zu dessen fatalem Leitstern. Einer stets utopisch bleibenden intimen Beziehung zu ihr ordnet er alles andere unter. Als ewiger Hausfreund in spe wird er vom Ehepaar gemeinsam wiederholt materiell in Anspruch genommen, ja ausgebeutet. Den Arnoux privat wie geschäftlich eng verbunden ist auch Regimbart, „der Bürger“, wie er konstant genannt wird. Er ist eine fast nur negativ gezeichnete Figur, ein aufgeblasener kleiner Bourgeois, der Durchblick und Ernsthaftigkeit vortäuscht, alkoholabhängig ist, krumme Wechselgeschäfte macht und sich von seiner Frau und deren Schneiderei ernähren lässt.
Noch mehr deprimierende Gestalten? Da ist Rosanette, die Kokotte, mit ihrem Kreis, dem neben Arnoux und Frédéric noch der Sänger und Schauspieler Delmar und die Agentin Vatnaz angehören. Rosanette ist das schöne Mädchen aus dem Volk, mit einer Odyssee durch die Berufe wie durch die Betten, eine frühe Femme fatale, hyperaktiv, unbefriedigt lassend und unbefriedigt bleibend. Ihre Freundin Vatnaz ist rationaler, ein früher Blaustrumpf, an Emanzipation und Sozialismus interessiert, sehr geschäftstüchtig und auch vor Unterschlagung nicht zurückschreckend. Die beiden Frauen machen sich Delmar streitig, von dem es heißt: „Er … schien hochmütig wie ein Pfau und dumm wie ein Truthahn … Er hatte gewöhnliche Züge, die wie Theaterdekorationen sich nur dazu eigneten, aus der Ferne betrachtet zu werden …“ Flaubert verhöhnt in ihm den Kult populärer Schauspieler: „ … und eine Biographie … schilderte, wie er seine alte Mutter pflegte, das Evangelium las, die Armen tröstete, kurz in den Farben eines heiligen Vincent de Paul, gemischt mit denen eines Brutus und eines Mirabeau …“
Dambreuse ist der Großkapitalist unter dem Bürgerkönig schlechthin. Flaubert analysiert ihn nicht nur soziologisch, er dämonisiert ihn auch: „Eine böse Energie schlummerte in seinen grünlichen Augen, die kälter waren als Augen von Glas.“ Sein Erfolgsrezept: „Herr Dambreuse folgte wie ein Barometer stets den letzten Schwankungen der Politik.“ Unter Louis Philippe reich und einflussreich geworden, passt er sich 1848 der Februarrevolution geschickt an, um sie später mit anderen gemeinsam zu vernichten. Seine Gattin ist ihm ebenbürtig - fast.
Dann der Kreis der Gefährten. Frédéric und Deslauriers sind seit der Schule Freunde – „er (d.h. Frédéric) hatte immer auf ihn eine beinahe frauenhafte Anziehung ausgeübt“, heißt es. Gelegentlich entfremden sie sich einander vorübergehend. Deslauriers ist in allem der Aktivere, Skrupellosere und meistens auch erfolgreicher. Am Ende weist er eine zusammengestückelte Biographie voller Brüche auf, ist ebenso enttäuscht vom Leben wie Frédéric. Martinon dagegen, Typ eiskalter Streber, wird sogar Senator. Sénécal, lange Zeit so etwas wie Frédérics Rivale um Deslauriers’ Zuneigung, ist jahrzehntelang fanatischer Sozialist, um zuletzt Louis Napoléon tatkräftig bei der Installierung eines bürgerlich-autoritären Staates zu unterstützen – er erschießt 1852 den Republikaner Dussardier, den einzig Reinen im Fähnlein dieser acht nicht allzu Aufrechten. Wer fehlt noch? Cisy, ein adeliger Trottel – Hussonet, ein Hanswurst von Journalist, gescheit, eitel, gewissenlos – Pellerin, ein wenig begabter Maler, immer auf seiner lebenslangen Rundreise durch intellektuelle Theorien und Moden.
Dass Dussardier die absolute Ausnahme unter den Gestalten des Romans darstellt, ist schon anderen aufgefallen. Er ist Handlungsgehilfe und mischt sich bei seinem ersten Auftreten beherzt ein, als Polizisten bei Studentenunruhen einen jungen Burschen vermöbeln. Frédéric erscheint er als ein „Herkules“: „Der furchtbare Mensch war so stark, dass wenigstens vier von ihnen nötig waren, um ihn zu bezwingen.“ Frédéric folgt dem festgenommenen Riesen auf die Wache und nimmt ihn näher in Augenschein: „Nun zeigte sich das grobe Gesicht Dussardiers, das mit seinem struppigen Haar, seinen ehrlichen kleinen Augen und seiner breiten Stülpnase irgendwie an den Kopf eines treuen Hundes erinnerte.“ Er ist also riesig, bärenstark, treuherzig, grundehrlich und sehr anhänglich – das Idealbild eines guten Freundes. Frédéric, dessen Gefühle allen anderen Romanfiguren gegenüber unbeständig sind und zeitweise bis zum Hass sich steigern können, empfindet ihm gegenüber nur anhaltende Sympathie. Gleichwohl bleibt ein Abstand zwischen ihnen, der Bildungsunterschied ist groß, die Gespräche mit ihm sind wenig ergiebig. Dussardier leiht sich Bücher von ihm aus, besucht ihn zeitweise „jeden Abend“. Als Frédéric seine Freunde erstmals gemeinsam in seine kleine Stadtvilla einlädt – er hat inzwischen geerbt -, wird Dussardiers besondere Stellung erneut deutlich. Von den anderen heißt es: „Sie erbitterten ihn allmählich so, dass er Lust hatte, sie hinauszuwerfen.“ Stattdessen „trat (er) mit Dussardier zur Seite und fragte, ob er ihm mit etwas dienen könne. Der Gute war gerührt …“
Haben wir es mit einem Fall von Subtext zu tun? Frédéric scheint nur allgemein-menschlich von Dussardier angezogen, nicht speziell erotisch. Immerhin ist er ein Held des 19. Jahrhunderts so wie sein Autor ein Mann desselben Zeitalters. Dennoch liest man sich hier und da verwundert fest, so an der Stelle, wo nach dem Duell Arnoux und „der Bürger“ Zynisches über Frauen äußern und Frédéric sich innerlich distanziert. Es folgt ein für Flaubert typischer Sprung, der den gedanklichen Zusammenhang verdeckt, und der nächste Absatz beginnt so: „Aber dankbar war er Dussardier für seine Treue …“ Während der Februarrevolution von 1848 verbringt Frédéric mit Rosanette ruhige Tage in Fontainebleau und sie kommen sich näher als je zuvor. Dann findet Frédéric in der Zeitung Dussardiers Namen auf einer Verwundetenliste. Er beschließt, sogleich nach Paris zurückzukehren und den Freund aufzusuchen. Rosanette, sehr aufgebracht, bleibt unterwegs in Melun allein zurück.
Die fortlaufend im Roman erzählte Handlung dauert vom 15. September 1840 bis zum 3. Dezember 1851. Am Tag davor hat der Staatsstreich Louis Napoléons stattgefunden. Dussardier verteidigt die Republik von 1848 im Straßenkampf. Frédéric sieht ihn ein letztes Mal vor einem Caféhaus: „Auf den Stufen von Tortoni blieb ein Mann stehen, Dussardier, von fern schon durch seinen hohen Wuchs sichtbar, starr wie eine Karyatide. Einer der Polizisten, der voranmarschierte, den Dreispitz über den Augen, bedrohte ihn mit seinem Degen. Der andere trat einen Schritt vor und rief: ‚Hoch die Republik!’ Er fiel auf den Rücken, die Arme ausgebreitet wie am Kreuz.“ Die stützende weibliche Figur, zu der jener Herkules des Beginns nun geworden ist, bringt mit ihrem Fall den Prozess der Desillusionierung zum Abschluss. Die Republik ist untergegangen, die wichtigen Frauen im Leben Frédérics sind ihm endgültig ferngerückt, der einzige Mann, dem gegenüber er echter Freundschaft fähig war, ist tot. Der Roman ist im Wesentlichen zu Ende, es folgt nur noch ein Epilog in zwei Kapiteln, der die Jahre danach kurz zusammenfasst.
Maxime du Camp, Schriftstellerkollege und jahrzehntelang Freund von Flaubert, will die Vorbilder der Romanfiguren wiedererkannt haben. Flaubert selbst erwähnt in seinen Briefen mehrfach, wie ihn bei der Niederschrift des Romans die Gestalt des Bürgers – womit hier Fréderic Moreau gemeint ist – ermüde und zuwider sei. Nun ist Frédéric nach seiner Struktur und Geschichte erkennbar vom jungen Flaubert abgeleitet, in der Gestaltung dann insoweit changierend zwischen Selbstanalyse und Selbsthass. Wie nahe die Hauptperson ihrem Schöpfer steht, wird z.B. aus dem 3. Kapitel im 3. Teil deutlich. Frédérics Analyse der gescheiterten Revolution ist identisch mit der des reifen Flaubert. Und im 4. Kapitel äußert sich wiederum Dussardier zum gleichen Thema ganz ähnlich. Das ist weniger Schwäche der Figurenzeichnung als vielmehr der Versuch, auf dem Umweg über politische Fragen Harmonie und Identität zwischen zwei Männern und ihrem Porträtmaler herstellen zu wollen.
Dussardier ist innerhalb des Romans das zwingend erforderliche Gegengewicht zu einer als vollkommen eitel dargestellten Gesellschaftswelt. Ohne ihn wäre sie so unerträglich wie unwahr. Darüber hinaus hat Flaubert mit Dussardier womöglich einem unbekannt gebliebenen Mann des 19. Jahrhunderts ein berührendes Denkmal setzen wollen. In diesem Fall ist ihm auch das gelungen.
(Zitate nach der Übersetzung von Paul Wiegler in „Gustave Flaubert, Lehrjahre des Gefühls – Geschichte eines jungen Mannes“, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, nachgedruckt als Insel Taschenbuch)
|
|
Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Ein Held bei Flaubert: Dussardier
Buch-Rezensionen:
|
|