[...] überdrüssig geworden ist, Jagden auf Mißgeburten zu veranstalten, dann
wäre allerdings der Bezirksrichter das erste Ziel. Aber sich über ihn zu ärgern
ist sinnlos. Darum ärgert sich auch der Unterstaatsanwalt nicht über ihn, er
ärgert sich nur über die Dummheit, die einen solchen Menschen auf einen
Bezirksrichterposten setzt. Die Dummheit also will Gerechtigkeit üben.
Es ist für die persönlichen Verhältnisse des Unterstaatsanwalts an und für sich
sehr bedauerlich, daß er nur einen so niedrigen Rang einnimmt, seinem
eigentlichen Bestreben aber würde es vielleicht nicht einmal genügen
Oberstaatsanwalt zu sein. Er müßte ein noch viel höherer Staatsanwalt werden, um
auch nur alle Dummheit die er vor seinen Augen sieht, unter wirksame Anklage
setzen zu können. Zur Anklage gegen den Bezirksrichter würde er sich dabei
wahrhaftig nicht herablassen, er würde ihn von der Höhe seines Anklägersitzes
nicht einmal erkennen. Wohl aber würde er rings herum eine so schöne Ordnung
schaffen, daß der Bezirksrichter nicht in ihr bestehen könnte, daß ihm ohne daß
er angerührt würde die Knie zu schlottern anfiengen und er schließlich vergehen
müßte. Dann wäre es vielleicht auch an der Zeit, den Fall des
Unterstaatsanwaltes selbst aus den versperrten Disciplinargerichten in den
offenen Gerichtssaal zu bringen. Dann wäre der Unterstaatsanwalt nicht mehr
persönlich beteiligt, er hätte kraft höherer Gewalt die ihm angelegten Ketten
zerbrochen und könnte nun selbst über sie zu Gericht sitzen. Er stellt sich vor,
daß ihm eine mächtige Persönlichkeit vor der Verhandlung ins Ohr flüstert:
"Jetzt wird Dir Genugtuung zuteil werden." Und nun kommt es zur Verhandlung. Die
angeklagten Disciplinarräte lügen natürlich, lügen mit zusammengebissenen
Zähnen, lügen so wie nur Leute von Gericht lügen können, wenn die Anklage einmal
sie trifft. Aber es ist alles so vorbereitet, daß die Tatsachen selbst alle
Lügen von sich abschütteln und sich frei und wahrheitsgemäß vor den Zuhörern
entwickeln. Es sind viele Zuhörer da, auf drei Seiten des Saales, nur die
Richterbank ist leer, man hat keine Richter gefunden, die Richter drängen sich
im engen Raum, wo sonst der Angeklagte steht, und suchen sich vor der leeren
Richterbank zu verantworten. Nur der öffentliche Ankläger, der gewesene
Unterstaatsanwalt, ist natürlich zugegen und auf seinem gewöhnlichen Platz. Er
ist viel ruhiger als sonst, er nickt nur hie und da, alles nimmt den richtigen
uhrenmäßigen Gang. Erst jetzt, nachdem der Fall von allen Schriftsätzen,
Zeugenaussagen, Verhandlungsprotokollen, Urteilsberatungen und
Entscheidungsgründen befreit ist, erkennt man seine sofort überwältigende
Einfachheit! Die Angelegenheit selbst liegt etwa fünfzehn Jahre zurück. Der
Unterstaatsanwalt war damals in der Residenzstadt, er war als tüchtiger Jurist
anerkannt, bei seinen Vorgesetzten sehr beliebt und hatte sogar schon Hoffnung
bald vor vielen Mitbewerbern zehnter Staatsanwalt zu werden. Der zweite
Staatsanwalt bewies ihm eine besondere Zuneigung und ließ sich von ihm selbst
bei nicht ganz unwichtigen Angelegenheiten vertreten. So war es auch bei einem
kleinen Majestätsbeleidigungsproceß. Ein Geschäftsangestellter, ein nicht
ungebildeter, politisch sehr tätiger Mann hatte in einer Weinstube in halber
Trunkenheit das Glas in der Hand eine Majestätsbeleidigung ausgesprochen. Ein
wahrscheinlich noch mehr betrunkener Gast am Nebentisch hatte die Anzeige
erstattet, er hatte in seiner Betäubung wahrscheinlich gemeint, daß er eine
ausgezeichnete Tat ausführe, war sofort um einen Polizeimann gelaufen und
glückselig lächelnd mit ihm zurückgekehrt, um ihm den Mann zu übergeben. Später
allerdings hielt er an seiner Aussage wenigstens im wichtigsten Teil fest, im
übrigen mußte die Majestätsbeleidigung sehr deutlich gewesen sein, denn kein
Zeuge konnte sie vollständig leugnen. Ihr Wortlaut aber konnte nicht zweifellos
festgestellt werden, die größte Berechtigung hatte die Annahme, daß der
Angeklagte mit dem Weinglas auf ein an der Wand hängendes Bild des Königs
gezeigt und dabei gesagt hatte: "Du Lump dort oben! " Die Schwere dieser
Beleidigung wurde nur durch den damaligen teilweise unzurechnungsfähigen Zustand
des Angeklagten gemildert sowie dadurch, daß er die Beleidigung in irgendeiner
Verbindung mit der Liedzeile: "solange noch das Lämpchen glüht" vorgebracht und
den Sinn des Ausrufes dadurch getrübt hatte. Über die Art der Verbindung
zwischen dem Ausruf und dem Lied hatte fast jeder Zeuge eine andere Meinung und
der Anzeiger behauptete sogar, ein anderer nicht der Angeklagte habe gesungen.
Ungemein erschwerend war für den Angeklagten seine politische Tätigkeit, die es
jedenfalls sehr glaubwürdig erscheinen ließ, daß er dessen fähig war, den Ausruf
auch bei gänzlicher Nüchternheit und mit vollster Überzeugung zu machen. Der
Unterstaatsanwalt erinnert sich sehr genau – er hat ja jene Dinge so oft
durchgedacht – wie er jene Anklage fast mit Begeisterung in Angriff nahm, nicht
nur weil es ehrenvoll war, einen Majestätsbeleidigungsproceß zu führen sondern
weil er den Angeklagten und seine Sache aufrichtig haßte. Da stand ein
politischer Streber, dem der ehrliche Beruf eines Geschäftsangestellten nicht
genügte, wahrscheinlich weil er ihm die Mittel für Weingelage zu liefern nicht
imstande war, ein Mensch mit einer riesenhaften Kinnlade die von einer kräftigen
Muskulatur auch riesenhaft bewegt wurde, ein geborener Volksredner der selbst
den Untersuchungsrichter anschrie, in diesem Fall leider eine nervöse aufgeregte
Natur. Die Untersuchung, welcher der Unterstaatsanwalt aus Interesse an der
Sache öfters beigewohnt hatte, war eine fortwährende Zänkerei. Einmal sprang der
Untersuchungsrichter auf, das andere Mal der Verhörte und einer donnerte den
andern an. Dies wirkte natürlich ungünstig auf die Ergebnisse der Untersuchung
ein und als der Unterstaatsanwalt auf diesen Ergebnissen die Anklage aufbauen
sollte, mußte er viel Arbeit und Scharfsinn aufwenden, um sie genügend
stichhaltig zu machen. Er arbeitete Nächte durch, aber mit Freude. Es waren
damals schöne Frühjahrsnächte, das Haus in dessen Erdgeschoß der
Unterstaatsanwalt wohnte hatte einen kleinen zwei Schritte breiten Vorgarten,
war der Unterstaatsanwalt von der Arbeit ermüdet oder verlangten die sich
drängenden Gedanken Ruhe und Sammlung, dann kletterte er aus dem Fenster in den
Vorgarten und gieng dort auf und ab oder lehnte mit geschlossenen Augen am
Gartengitter. Er hat sich damals nicht geschont, er arbeitete die ganze Anklage
mehreremal um, manche Teile zehn- und zwanzigmal. Außerdem häufte sich das für
die Hauptverhandlung vorbereitete Material in fast undurchdringlicher Fülle.
"Gebe Gott daß ich dieses alles fassen und verwerten kann", war in den Nächten
seine ständige Bitte. Mit der Anklage selbst hielt er seine Arbeit nur zum
geringsten Teile für beendet, darum sah er auch das Lob des zweiten
Staatsanwalts, mit dem ihm dieser die Anklageschrift nach genauer Prüfung
zurückgab, nicht als Lohn sondern nur als Aufmunterung an, und dieses Lob war
groß und es kam überdies von einem strengen, wortkargen Mann. Es lautete, wie es
der Unterstaatsanwalt in seinen spätern Eingaben oft wiederholte, ohne
allerdings den zweiten Staatsanwalt dazu bewegen zu können, sich daran zu
erinnern: "Dieses Heft, mein lieber Kollega, enthält nicht nur die Anklage, es
enthält aller menschlichen Voraussicht nach auch Ihre Ernennung zum zehnten
Staatsanwalt." Und als der Unterstaatsanwalt bescheiden schwieg, fügte der
zweite Staatsanwalt hinzu: "Vertrauen Sie mir." Zur Hauptverhandlung gieng der
Unterstaatsanwalt fest und ruhig. Niemand im Saal kannte alle Feinheiten und
Beziehungen der Prozeßsache so wie er. Der Verteidiger war ungefährlich, ein dem
Unterstaatsanwalt gut bekanntes, immer schreiendes aber wenig scharfsinniges
Männchen. An dem Tag war er gewiß nicht einmal sehr kampflustig, er verteidigte,
weil er verteidigen mußte, weil es um ein Mitglied seiner politischen Partei
gieng, weil sich vielleicht Gelegenheit zu Tiraden ergeben würde, weil die
Parteipresse auf den Fall ein wenig aufmerksam war, aber Hoffnung seinen
Klienten durchzubringen hatte er nicht. Der Unterstaatsanwalt erinnert sich
noch, wie er diesem Verteidiger kurz vor Beginn der Verhandlung mit schwer
unterdrücktem Lächeln zusah; unfähig sich zu beherrschen, wie dieser Verteidiger
überhaupt war, warf er auf seinem Tisch alles durcheinander, riß Blätter aus
seinen Schriften und wie mit
einem Windhauch waren sie sofort mit Notizen
bedeckt, unter dem Tisch klapperten inzwischen seine kleinen Füßchen und jeden
Augenblick strich er, ohne es zu wissen, mit ängstlicher Bewegung über seine
Glatze, als suche er dort irgendwelche Verletzungen. Er schien dem
Unterstaatsanwalt ein unwürdiger Gegner zu sein. Als er gleich bei Beginn der
Verhandlung aufhüpfte und mit häßlicher pfeifender Stimme den Antrag gestellt
hatte, die Verhandlung möge in öffentlicher Sitzung stattfinden, erhob sich der
Unterstaatsanwalt fast schwerfällig von seinem Sitz. Alles war so klar und
durchdacht, es war als mischten sich alle Leute ringsherum in eine ihm allein
gehörige Sache, eine Sache die er ihrem Wesen gemäß in sich selbst zu Ende
führen könnte ohne Richter und Verteidiger und ohne Angeklagten.
Und er schloß sich dem Antrag des Verteidigers an, sein Verhalten war ebenso
unerwartet wie das des Verteidigers selbstverständlich gewesen war. Aber er
erklärte sein Verhalten und während seiner Erklärung war es im Saal so still,
daß er, wenn nicht die vielen Augen von allen Seiten auf ihn gerichtet gewesen
wären, als wollten sie ihn zu sich ziehn, hätte glauben können, er spreche im
leeren Saal mit sich selbst. Daß er überzeugte, merkte er sofort. Die Richter
streckten die Hälse und sahen erstaunt einander an, der Verteidiger lehnte steif
in seinem Stuhl, als sei die Erscheinung des Unterstaatsanwaltes gerade jetzt
aus dem Boden gestiegen; der Angeklagte rieb vor Spannung seine Riesenzähne
aneinander, im Gedränge der Zuhörer hielt man sich bei den Händen fest. Sie
erkannten, daß ihnen hier einer die ganze Angelegenheit, zu der sie in dieser
oder jener schwachen Beziehung standen gänzlich entwand und zu seinem
unentreißbaren Eigentum machte. Jeder hatte geglaubt einem kleinen
Majestätsbeleidigungsproceß beizuwohnen, und nun hörte er, wie der
Unterstaatsanwalt schon beim ersten Antrag die Beleidigung selbst wie etwas
Nebensächliches mit wenigen Worten streifte
Es ritten die Husaren durch die dunkle enge Gasse.