Gestern abend nach sechs Uhr machte ich mich aber doch auf den Weg; es war
freilich keine Besuchszeit mehr, aber die Sache war ja nicht gesellschaftlich
sondern kaufmännisch zu beurteilen. Ich hatte Glück, K. war zuhause; er war
eben, wie man mir im Vorzimmer sagte, mit seiner Frau von einem Spaziergang
zurückgekommen und jetzt im Zimmer seines Sohnes, der unwohl war und im Bett
lag. Ich wurde aufgefordert, auch hinzugehn; zuerst zögerte ich, dann aber
überwog das Verlangen, den leidigen Besuch möglichst schnell zu beenden, und ich
ließ mich, so wie ich war, im Mantel, Hut und Mustertasche in der Hand, durch
ein dunkles Zimmer in ein matt beleuchtetes führen, in welchem eine kleine
Gesellschaft beisammen war.
Wohl instinktmäßig fiel mein Blick zuerst auf einen mir nur allzugut bekannten
Geschäftsagenten, der zum Teil mein Konkurrent ist. So hatte er sich denn also
noch vor mir heraufgeschlichen. Er saß bequem knapp beim Bett des Kranken, so
als wäre er der Arzt; in seinem schönen, offenen, aufgebauschten Mantel saß er
großmächtig da; seine Frechheit ist unübertrefflich; etwas ähnliches mochte auch
der Kranke denken, der mit ein wenig fiebergeröteten Wangen dalag und manchmal
nach ihm hinsah. Er ist übrigens nicht mehr jung, der Sohn, ein Mann in meinem
Alter mit einem kurzen, infolge der Krankheit etwas verwilderten Vollbart. Der
alte K., ein großer, breitschultriger Mann, aber durch sein schleichendes Leiden
zu meinem Erstaunen recht abgemagert, gebückt und unsicher geworden, stand noch,
so wie er eben gekommen war, in seinem Pelz da und murmelte etwas gegen den Sohn
hin. Seine Frau, klein und gebrechlich, aber äußerstlebhaft,wenn auch nur so
weit es ihn betraf–uns andere sah sie kaum – war damit beschäftigt, ihm den Pelz
auszuziehn, was infolge des Größenunterschiedes der Beiden einige
Schwierigkeiten machte, aber schließlich doch gelang. Vielleicht lag übrigens
die eigentliche Schwierigkeit darin, daß K. sehr ungeduldig war und unruhig mit
tastenden Händen immerfort nach dem Lehnstuhl verlangte, den ihm dann auch,
nachdem der Pelz ausgezogen war, seine Frau schnell zuschob. Sie selbst nahm den
Pelz, unter dem sie fast verschwand, und trug ihn hinaus.
Nun schien mir endlich meine Zeit gekommen oder vielmehr, sie war nicht gekommen
und würde hier wohl auch niemals kommen; wenn ich aber überhaupt noch etwas
versuchen wollte, mußte es gleich geschehn, denn meinem Gefühl nach konnten hier
die Voraussetzungen für eine geschäftliche Aussprache nur noch immer schlechter
werden; mich hier aber für alle Zeiten festzusetzen, wie es der Agent scheinbar
beabsichtigte, das war nicht meine Art; übrigens wollte ich auf ihn nicht die
geringste Rücksicht nehmen. So begann ich denn kurzerhand, trotzdem ich merkte,
daß K. gerade Lust hatte, sich ein wenig mit seinem Sohn zu unterhalten, meine
Sache vorzutragen. Leider habe ich die Gewohnheit, wenn ich mich ein wenig in
Erregung gesprochen habe – und das geschieht sehr bald und geschah in diesem
Krankenzimmer noch früher als sonst – aufzustehn und während des Redens auf- und
abzugehn. Im eigenen Bureau eine recht gute Einrichtung, ist es in einer fremden
Wohnung doch ein wenig lästig. Ich konnte mich aber nicht beherrschen, besonders
da mir die gewohnte Cigarette fehlte. Nun, jeder hat seine schlechten
Gewohnheiten, dabei lobe ich noch die meinen im Vergleich zu denen des Agenten.
Was soll man z. B. dazu sagen, daß er seinen Hut, den er auf dem Knie hält und
dort langsam hin und herschiebt, manchmal, plötzlich, ganz unerwartet aufsetzt;
er nimmt ihn zwar gleich wieder ab, als sei ein Versehn geschehn, hat ihn aber
doch einen Augenblick lang auf dem Kopf gehabt, und das wiederholt er immer
wieder von Zeit zu Zeit. Eine solche Aufführung ist doch wahrhaftig unerlaubt zu
nennen. Mich stört es nicht, ich gehe auf und ab, bin ganz von meinen Dingen in
Anspruch genommen und sehe über ihn hinweg, es mag aber Leute geben, welche
dieses Hutkunststück gänzlich aus der Fassung bringen kann. Allerdings beachte
ich im Eifer nicht nur eine solche Störung nicht, sondern überhaupt niemanden,
ich sehe zwar was vorgeht, nehme es aber, solange ich nicht fertig bin oder
solange ich nicht geradezu Einwände höre, gewissermaßen nicht zur Kenntnis. So
merkte ich z. B. wohl, daß K. sehr wenig aufnahmsfähig war; die Hände an den
Seitenlehnen drehte er sich unbehaglich hin und her, blickte nicht zu mir auf,
sondern sinnlos suchend ins Leere und sein Gesicht schien so unbeteiligt, als
dringe kein Laut meiner Rede, ja nicht einmal ein Gefühl meiner Anwesenheit zu
ihm. Dieses ganze, mir wenig Hoffnung gebende krankhafte Benehmen sah ich zwar,
sprach aber trotzdem weiter, so als hätte ich doch noch Aussicht durch meine
Worte, durch meine vorteilhaften Angebote – ich erschrak selbst über die
Zugeständnisse, die ich machte, Zugeständnisse, die niemand verlangte – alles
schließlich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine gewisse Genugtuung gab es
mir auch, daß der Agent, wie ich flüchtig bemerkte, endlich seinen Hut ruhen
ließ und die Arme über der Brust verschränkte; meine Ausführungen, die ja auch
zum Teil für ihn berechnet waren, schienen seinen Plänen einen empfindlichen
Stich zu geben. Und ich hätte in dem dadurch erzeugten Wohlgefühl vielleicht
noch lange fortgesprochen, wenn nicht der Sohn, den ich als für mich
nebensächliche Person bisher vernachlässigt hatte, plötzlich sich im Bette halb
erhoben und mit drohender Faust mich zum Schweigen gebracht hätte. Er wollte
offenbar noch etwas sagen, etwas zeigen, hatte aber nicht genug Kraft. Ich hielt
das alles zuerst für Fieberwahn, aber als ich unwillkürlich gleich darauf nach
dem alten K. hinblickte, verstand ich es besser.
K. saß mit offenen, glasigen, aufgequollenen, nur für die Minute noch
dienstbaren Augen da, zitternd nach vorne geneigt, als hielte oder schlüge ihn
jemand im Nacken, die Unterlippe, ja der Unterkiefer selbst mit weit entblößtem
Zahnfleisch hing unbeherrscht hinab, das ganze Gesicht war aus den Fugen; noch
atmete er, wenn auch schwer, dann aber wie befreit fiel er zurück gegen die
Lehne, schloß die Augen, der Ausdruck irgendeiner großen Anstrengung fuhr noch
über sein Gesicht und dann war es zuende. Schnell sprang ich zu ihm, faßte die
leblos hängende, kalte, mich durchschauernde Hand; da war kein Puls mehr. Nun
also, es war vorüber. Freilich, ein alter Mann. Mochte uns das Sterben nicht
schwerer werden. Aber wie vieles war jetzt zu tun! Und was in der Eile zunächst?
Ich sah mich nach Hilfe um; aber der Sohn hatte die Decke über den Kopf gezogen,
man hörte sein endloses Schluchzen; der Agent, kalt wie ein Frosch, saß fest in
seinem Sessel, zwei Schritte gegenüber K. und war sichtlich entschlossen, nichts
zu tun, als den Zeitablauf abzuwarten; ich also, nur ich blieb übrig etwas zu
tun und jetzt gleich das Schwerste, nämlich der Frau irgendwie, auf eine
erträgliche Art, also eine Art, die es in der Welt nicht gab, die Nachricht zu
vermitteln. Und schon hörte ich die eifrigen schlürfenden Schritte aus dem
Nebenzimmer.
Sie brachte – noch immer im Straßenanzug, sie hatte noch keine Zeit gehabt sich
umzukleiden – ein auf dem Ofen durchwärmtes Nachthemd, das sie ihrem Mann jetzt
anziehn wollte. "Er ist eingeschlafen", sagte sie lächelnd und kopfschüttelnd,
als sie uns so still fand. Und mit dem unendlichen Vertrauen des Unschuldigen
nahm sie die gleiche Hand, die ich eben mit Widerwillen und Scheu in der meinen
gehalten hatte, küßte sie wie in kleinem ehelichen Spiel und – wie mögen wir
drei andern zugesehn haben! – K. bewegte sich, gähnte laut, ließ sich das Hemd
anziehn, duldete mit ärgerlich-ironischem Gesicht die zärtlichen
Vorwürfe seiner
Frau wegen der Überanstrengung auf dem allzu großen Spaziergang, und sagte
dagegen, um sein Einschlafen anders zu erklären, merkwürdiger Weise etwas von
Langerweile. Dann legte er sich, um sich auf dem Weg in ein anderes Zimmer nicht
zu verkühlen, vorläufig zu seinem Sohn ins Bett; neben die Füße des Sohnes wurde
auf zwei von der Frau eilig herbeigebrachten Polstern sein Kopf gebettet. Ich
fand nach dem Vorangegangenen nichts Sonderbares mehr daran. Nun verlangte er
die Abendzeitung, nahm sie ohne Rücksicht auf die Gäste vor, las aber noch
nicht, sah nur hie und da ins Blatt und sagte uns dabei mit einem erstaunlichen
geschäftlichen Scharfblick einiges recht Unangenehme über unsere Angebote,
während er mit der freien Hand immerfort wegwerfende Bewegungen machte und durch
Zungenschnalzen den schlechten Geschmack im Munde andeutete, den ihm unser
geschäftliches Gebahren verursachte. Der Agent konnte sich nicht enthalten
einige unpassende Bemerkungen vorzubringen, er fühlte wohl sogar in seinem
groben Sinn, daß hier zu dem, was geschehen war, irgendein Ausgleich geschaffen
werden mußte, aber auf seine Art ging es freilich am allerwenigsten. Ich
verabschiedete mich nun schnell, ich war dem Agenten fast dankbar; ohne seine
Anwesenheit hätte ich nicht die Entschlußkraft gehabt schon fortzugehn.
Im Vorzimmer traf ich noch Frau K. Im Anblick ihrer armseligen Gestalt sagte ich
aus meinen Gedanken heraus, daß sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere. Und
da sie still blieb, fügte ich bei: "Was man dazu auch sagen mag: die konnte
Wunder tun. Was wir schon zerstört hatten, machte sie noch gut. Ich habe sie
schon in der Kinderzeit verloren. " Ich hatte absichtlich übertrieben langsam
und deutlich gesprochen, denn ich vermutete, daß die alte Frau schwerhörig war.
Aber sie war wohl taub, denn sie fragte ohne Übergang: "Und das Aussehn meines
Mannes?" Aus paar Abschiedsworten merkte ich übrigens, daß sie mich mit dem
Agenten verwechselte; ich wollte gern glauben, daß sie sonst zutraulicher
gewesen wäre.
Dann ging ich die Treppe hinunter. Der Abstieg war schwerer als früher der Aufstieg und nicht einmal dieser war leicht gewesen. Ach, was für mißlungene Geschäftswege es gibt und man muß die Last weitertragen.