„Julietta! Diese Kugel rächt dich!“ kann der Commandantnoch rufen, als er vom Pferd fällt und sich vermeintlich tot glaubt, so wie auch all die anderen. Seinen Ausruf kann aber nur der verstehen, der die ganze Geschichte der Marquise von O. zu Ende liest, denn außer diesem Namen wird kein einziger anderer Name vollends ausgeschrieben, sondern stets mit dem ersten Initial abgekürzt. Natürlich wollte der Autor damit ausdrücken, dass sich die Geschichte in jeder Familie an jedem Ort der Welt zugetragen haben könnte und nicht nur in irgendeiner „bedeutenden Stadt im oberen Italien“. Interessant aber ist, dass gerade dieser Satz auf dem Schlachtfeld fällt, der eigentlich schon die ganze Pointe verrät und am Ende noch so eine wichtige Pointe bekommen wird.
Der vor zweihundert Jahren gestorbene Heinrich von Kleist (1777-1811) erzählt in der vorliegenden Publikation die Geschichte einer verwitweten Marquise, die ohne ihr Wissen von einem russischen Offizier geschwängert wurde und daraufhin eine Anzeige in einigen lokalen Zeitungen aufgibt, der Verursacher ihrer Umstände solle sich doch melden. Die Geschichte wird von Kleist übrigens sämtlich in indirekter Rede erzählt, wer des Konjunktivs also nicht mächtig ist, wird sich einigermaßen schwer tun, aber er soll wohl ausdrücken, dass die Geschichte auf Hörensagen beruht, dass man nicth weiß, ob es sich wirklich genauso zugetragen hat, wie er die Geschichte hier erzählt. Spannend ist nun, dass ausgerechnet ein französischer Regisseur in den 70ern eine deutsche Novelle verfilmt, die noch dazu in indirekter Rede geschrieben wurde: 1976 verfilmte der französische Nouvelle Vague-Meister Eric Rohmer die eigentlich unverfilmbare Novelle Kleists mit den deutschen Schauspielerstars Edith Clever, Bruno Ganz und Otto Sander.
Anlässlich des Kleist-Gedenkjahres, das mit dem 200. Todestag des Dichters am 21. November dieses Jahres seinen Höhepunkt findet, erscheint bei Schirmer/Mosel erstmals eine illustrierte Ausgabe des Kleist’schen Originaltexts mit Bildern aus Rohmers kongenialer Verfilmung. Und tatsächlich ist die Geschichte bis zum letzten Atemzug öhm Seite spannend, auch wenn man bald den Ausgang zu erraten weiß, will man dennoch genau wissen, wie der Kleist ihn denn erzählt. Bald gefällt einem auch die altertümliche antiquierte jedoch sehr gewählte Ausdrucksweise, etwa wenn sich der im Wundfieber wälzende Soldat bei folgenden Gedanken wähnt: „wie sie beständig, während seiner Krankheit an seinem Bette gesäßen habe, (…), er sie immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechslet hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen, dass ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Koth beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Fluth wieder emporgekommen sey (…).“
Die Reflexionen über eine tatsächlich passierte Vergewaltigung werden bald zu einem Verwirrspiel der Institutionen, denn die Angebetete und schon mals Verheiratete wolle auf keinen Fall nochmals heiraten, doch der Commandant, der am Ende vielleicht sogar der Übeltäter ist und sich vom Saulus zum Paulus wandelt, bald um ihre Hand anhält, worauf die Eltern begeistert, die Tochter endlich anzubringen, in helle Freude ausbrechen, dann sie aber wieder verstoßen, um am Ende denn doch noch die Glocken läuten zu hören. Alles nur inszeniert, um die Eltern irre zu führen? Tabus zu brechen? Oder gab es wirklich eine Vergewaltigung? Viel Licht in die Sache bringt der erste Satz dieser Rezension, ein wahrliches Lesevergnügen!
Heinrich von Kleist
Die Marquise von O....
Mit Filmbildern von Eric Rohmer
Umschlagmotiv: Edith Clever
160 Seiten,
70 Farbabbildungen
ISBN 978-3-8296-0571-1
€ 19.80; € (A) 20,40; sFr 30.50
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-10-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.