Wohl kein Kubist, kein Expressionist, kein Dadaist hätte sich selbst als „Avantgardist“ bezeichnet, räumen die Herausgeber gleich zu Beginn in ihrem Vorwort ein. Ob er sich als solcher verstanden oder sich gar als künstlerische „Vorhut“ (franz.: Avantgarde) selbst inszeniert hat, stehe aber auf einem ganz anderen Blatt. „Was in der deutschen, aber auch der französischen historiographischen Tradition als Avantgarde bezeichnet wird, erscheint insbesondere in der angelsächsischen eher als `modernism´, als `Modernismus´. Auch in Nordeuropa z. B. findet sich `Avantgarde´ als Selbstbezeichnung bzw. historiographische Kategorie nicht oder nur sehr eingeschränkt und wird erst in den letzten Jahren geläufiger. In der Forschung der ehemaligen sozialistischen Länder Osteuropas setzt sich der Avantgarde-Begriff, der hier von der politischen Avantgarde der Kommunistischen Partei semantisch okkupiert ist, erst spät durch.“, so die beiden Herausgeber zur Chronologie und Verwendugn der Terminologie. Kunst & Revolution
Trotz einer uneinheitlichen Theorie und Praxis sei das Ausrufen der eigenen Bewegung als einer neuen mit entsprechend großem Differenzpotential gegenüber allem Alten und Anderen der entscheidende Vorgang, der die Avantgarde auszeichne. „Für die Heterogenität und den fluktuierenden Charakter der Avantgarde ist der Katarakt sich schnell ablösender ›Ismen‹ und entsprechender Selbstbezeichnungen immer wieder neu verkündeter Kunst-Revolutionen typisch seit der Entstehung der ersten Avantgarde-Bewegungen um 1910.“ Aber eine Selbsteinschätzung und Proklamation muss nicht zwangsläufig mit der historischen Bedeutung einer Bewegung übereinstimmen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts seien die frühesten Avantgardebewegungen und -gruppierungen wie der Kubismus und Fauvismus in Paris und die expressionistische Brücke in Dresden anfangs sogar ohne ausführliche Programm-Erklärungen oder elaborierte Eröffnungs-Manifeste ausgekommen. Den Reigen derartiger Eröffnungs-Manifeste zum Start einer Avantgarde-Bewegung begann eigentlich erst der italienische Futurist Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Manifest „Le futurisme“, das am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung „Le Figaro“ erschien und die Geburtsstunde des italienischen Futurismus durch sehr programmatische und moderne Geburtswehen quasi einläutete: „Ihr wollt Euch allen Fremden unterwerfen, ihr seid von einer abstoßenden Servilität! Venezianer! Venezianer! Warum wollt ihr immer die treuen Sklaven der Vergangenheit bleiben, die Hüter des größten Bordells der Geschichte, die Insassen des traurigsten Krankenhauses in der Welt?“, hieß es bei Marinetti, der die Kanäle der Stadt mit dem Bauschutt der alten Paläste füllen und Venedig als „industrielles und militärisches Zentrum“ wieder das adriatische Meer beherrschen lassen wollte.
Kunst als Schlachtfeld des guten Geschmacks
Vom „Aufbruch der modernen Kunst“ und der Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur „Postmoderne“ - das Lexikon „Avantgarde“ gibt einen umfassenden Überblick über die klassische Avantgarde und die neueren Avantgarde-Bewegungen. In rund 220 Artikeln erschließt es die Avantgarde in den einzelnen Ländern sowie die verschiedenen Gattungen und Kunstsparten, wie z. B. Architektur, Bildhauerei, Design, Film, Literatur, Malerei, Mode und Fotografie. Die alphabetischen Einträge reichen von Abstrakter Kunst, Bauhaus, Collage und Computerkunst, über Experimentelle Musik, Gesamtkunstwerk, Happening, Konkrete Poesie, Manifest und Neue Sachlichkeit, bis Performance, Pop-Art, Ready-made und Zufall. Wer sich für Manifeste à la Marinetti interessiert dem sei auch das ebenfalls im Metzler-Verlag erschienene Buch „Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938)“ von Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.) empfohlen.