Willi van Hengel: Lucile
(edition lithaus, Berlin, 11,90 Euro)
Im Mittelpunkt dieses neu erschienenen Briefromans steht eine Philosophiestudentin, deren Briefe an ihre Freundin Lucile von zunehmenden Zweifeln an dem, was wir unter „Realität“ verstehen, bestimmt werden. Nachdem ihr Freund zu einer Reise aufgebrochen ist, führt sie das Alleinsein in immer tiefere Fragen: über die Liebe und ihr Leiden verursachendes Wesen, über das Leben und sein prinzipielles Offensein und über die Sehnsucht nicht nur nach Menschen, sondern vor allem auch nach Antworten.
Die zunehmenden Zweifel treiben die Protagonistin immer mehr in die Einsamkeit. Der Austausch mit Freuden findet für sie nur noch an der Oberfläche statt, denn alles könnte auch anders sein. „Über alles lässt sich streiten, über alles lässt sich lachen: also über nichts!“ Das Erleben von Kontingenz ergreift auch ihr eigenes Ich. Sie fühlt sich von anderen nicht mehr gekannt, denn gekannt zu werden bedeutet, von der eigenen Existenz überzeugt zu sein, und diese Selbstgewissheit hat die Protagonistin verloren.
Schließlich erscheint auch die scheinbar Halt gebende Brieffreundin Lucile als imaginär: „obwohl ich gar nicht weiß, ob es dich wirklich gibt, dort in Paris oder irgendwo anders, außer als ein Wort.“
Nachdem auch die Existenz des Freundes, nach dem sie sich sehnt, in Frage gestellt wird, bleibt zum Schluss zwingend, die eigene Existenz anzuzweifeln: „und zuguterletzt ich selbst, die ich mir nicht einmal mehr sicher bin, ob es mich überhaupt gibt? Ist es nur ein Vorurteil, dass ich lebe, mehr nicht ...?“
Durch die konsequente Einhaltung der Dekonstruktion des Seins fragt sich der Leser am Ende des Romans, ob um elf Uhr abends wirklich eine junge Frau auf dem Bahnhof stehen und erleichtert ihren Freund in die Arme schließen wird. Wir möchten glauben, dass es so ist, um uns selbst zu erleichtern von der gelungenen Verunsicherung dessen, was wir als existent brauchen, um uns sicher genug zu sein, das Abendbrot zu machen und am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu fahren.
Der Autor Willi van Hengel hat einen bravourösen Debütroman vorgelegt, der sich durch eine konsequente Fortführung „eines schönen Spiels mit dem Ich“ auszeichnet. Die Gedanken der Protagonistin sind sensibel beschrieben und halten den Leser bis zum Ende in Bann. Wer hinter die Fassade (s)eines scheinbar sicheren Ichs blicken möchte, dem sei dieser Roman empfohlen: Verunsicherung ist garantiert!
Gabriele Scheffler
[*] Diese Rezension schrieb: Gabriele Scheffler (2007-04-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.