Nachdem die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan vor über drei Jahren mit dem autobiographisch geprägten Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ auch in Deutschland der Durchbruch gelang, schrieb ich in meiner Rezension begeistert:
„Delphine de Vigan ist mit ihrer literarischen Suche nach dem Lächeln ihrer Mutter ein Familienroman gelungen, der über drei Generationen wie in einer romanhaften Familienaufstellung ein Bild von einer französischen Großfamilie des Bürgertums der 50 er und 60 er Jahre zeichnet, aber auch ihre dunkle Seiten, ihre Familiengeheimnisse und die Ängste der einzelnen Mitglieder offenlegt. Es herrscht in dieser Familie, geprägt auch durch viele unbearbeiteten Schicksalsschläge eine tiefe Verzweiflung am Leben, eine Familienstruktur, die sich für Einzelne anfühlt wie ein Fluch.“
Ein ganz anderer Fluch beginnt für die Autorin nur wenige Monate, nachdem „Das Lächeln meiner Mutter“ in Frankreich erschienen war, und stark beachtet wurde. Als Delphine de Vigan nach bewusst kurz gehaltenen Lesereisen und öffentlichen Auftritten wieder schreiben will, hat sie eine Blockade. Ein Schreibblockade, die sich über drei Jahre hinzieht, und für die sie lange Zeit auch gegenüber ihrem Partner, ihren Kindern und ihren Freunden schweigt, und die sie sich nach dem schmerzhaften Ende nur so im Vorwort zu ihrem neuen Buch erklären kann:
„Die Wahrheit ist, dass ich in dem Augenblick, wo ich mit dem Schreiben hätte anfangen müssen, und zwar gemäß einem Zyklus, in dem sich Latenz-, Inkubations- und Phasen des eigentlichen Schreibens abwechseln – einen quasi chronobiologischen Zyklus, in dem ich seit mehr als zehn Jahren lebte-, in dem Augenblick also, wo ich das Buch, für das ich bereits eine gewisse Anzahl Notizen gemacht hatte und eine umfangreiche Dokumentation zusammengestellt hatte, L. begegnete.“
Sie lernt L. auf einer Party kennen, ist sofort wie gefangen und tief berührt von einer Empathie und einem Verständnis, das sie so noch nie erlebt hat. Auch L. ist Schriftstellerin, und schreibt als Ghostwriterin für sehr berühmte Menschen Biographien. Sehr schnell entwickelt sich eine immer tiefere Freundschaft zwischen den beiden, bis am Ende L. sogar bei der Autorin in der Wohnung wohnt. De Vigan hat L. in die Pläne für ihr neues Buch eingeweiht, diese jedoch rät auf eine sehr heftige Weise davon ab, und will unbedingt, dass de Vigan weiter nur real geschehene Erlebnisse in ihren Büchern beschreibt. Die Begründungen werden literaturwissenschaftlich und philosophisch ausgeführt und man gerät in eine aktuelle Debatte über Sinn und Zweck von Literatur, speziell Romanen.
Delphine wird durch diese heftige Kritik aus ihrer gewohnten Sicherheit geworfen und am Ende kann sie noch nicht einmal mehr eine Tastatur anschauen. Immer mehr gleitet sie in eine Depression ab, wobei ihr L. immer mehr abnimmt. Fühlt sich Delphine zu Beginn noch tief verstanden, nimmt sogar literarische Hilfe von L. an, um drängende und schon zugesagte Aufträge auszuführen, beginnt sie zunehmend zu erkennen, dass L. auf die Zerstörung ihrer Identität hinarbeitet, an manchen Stellen deren ursprüngliche sogar übernimmt.
Delphine beginnt langsam, sich dagegen zu wehren, bespricht Audiodateien auf ihrem Handy, die sie in ihrem PC speichert, um sie später vielleicht verwenden zu können. Doch L. spürt genau, was vor sich geht, und ergreift Gegenmaßnahmen. Nun beginnt sich eine Handlung, die zuvor von einer zunehmend schwierigen Frauenfreundschaft und von literarisch-philosophischen Debatten handelte, zu einem regelrechten Thriller zu entwickeln.
Natürlich ist die Tatsache, dass Delphine de Vigan ein neues Buch geschrieben hat, für den Leser schon zu Beginn der Hinweis darauf, dass sie schlussendlich ihre Blockade überwinden wird. Nun ist es aber dennoch eine persönlich erlebte Romangeschichte geworden. Hinweis auf den immer noch bestehenden Einfluss von L., oder überlebensnotwendige Befreiung von ihm, wie beim vorhergehenden Buch?
Unabhängig davon, wie viel Fiktion Delphine de Vigan dieser real erlebten Geschichte verliehen hat, ist das Buch ein literarischer Wurf um Freundschaft und Vertrauen, Macht und Machtmissbrauch. Immer mehr nimmt sie den Leser mit hinein in die Suche nach der wahren Identität von L. Die bleibt im Dunkel, aber es scheint sie weiter zu geben. Vielleicht taucht sie im nächsten Roman wieder auf.
Oder ist sie eine geniale Erfindung von Delphine de Vigan, um ihre Schreibblockade zu erklären, wie de Vigans Partner an einer Stelle vermutet?
Ein hervorragendes Buch, das dem Leser einiges abverlangt ihn aber auch von Anfang bis Ende mit einem selten anspruchsvollen Leseerlebnis belohnt.
Was für das Leseerlebnis gilt, gilt erst recht für das Hörerlebnis der von der Schauspielerin Martina Gedeck eingelesenen ungekürzten Hörbuchfassung. Sie selbst sagt zu diesem Buch: „Ein kluges und geheimnisvolle Spiel um Literatur und Wahrheit, Identität und Künstlertum. Ein wunderbarer Text.“ Den sie auf wunderbare Weise gelesen, sich regelrecht in diese Figuren hineinbegeben hat. Hört man ihre Stimme und stellt sich eine Verfilmung vor – Martina Gedeck wäre für beide weiblichen Hauptfiguren eine Idealbesetzung.
Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte, Random House Audio 2016 , ISBN 978-3-8371-3641-8
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-09-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.