Mit viel Mut und großer Sensibilität nähert sich die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan in ihrem neuen Roman dem Schicksal nicht nur ihrer Mutter Lucile, sondern auch einer geheimnisvollen Familiengeschichte voller Höhepunkte und dramatischer Lebensläufe.
Der französische Originaltitel „Rien ne s`óppose a la nuit“ (Nichts steht der Nacht entgegen) ist viel poetischer und passt zum Inhalt des Buches besser, als der deutsche. Er ist einem Chanson entnommen, das die Autorin während des schwierigen Schreibens dieses Buches immer begleitet hat.
Warum, das ist die quälende Hauptfrage des Buches, warum hat sich Lucile, diese schöne und besondere Frau, umgebracht? Warum hat sie sich dafür entschieden, freiwillig aus dem Leben zu gehen? Seit dem Tag, als dies geschah, konnte ihre Tochter Delphine nicht ruhen, bis sie auf diese Frage eine Antwort fand und sich so nicht nur mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem eigenen, aus der Spur gekommenen Leben versöhnen konnte.
In einem langen und für sie und ihre Familienangehörigen, die sie alle befragt, nicht leichten Prozess trägt sie alles zusammen, was sie findet: Tonbänder, Briefe, Fotoalben und viele Bilder. Sie führt viele und lange Gespräche mit den Geschwistern ihrer Mutter, mit Freunden und Bekannten einer weit verzweigten Familie. Und langsam, in einem schmerzhaften Schreib- und Selbstverständigungsprozess entsteht das Bild einer ganz außergewöhnlichen Frau, widersprüchlich und geheimnisvoll. Eine Frau, die ihr ganzes Leben auf der Suche war nach sich selbst.
Delphine de Vigan ist mit ihrer literarischen Suche nach dem Lächeln ihrer Mutter ein Familienroman gelungen, der über drei Generationen wie in einer romanhaften Familienaufstellung ein Bild von einer französischen Großfamilie des Bürgertums der 50 er und 60 er Jahre zeichnet, aber auch ihre dunkle Seiten, ihre Familiengeheimnisse und die Ängste der einzelnen Mitglieder offenlegt. Es herrscht in dieser Familie, geprägt auch durch viele unbearbeiteten Schicksalsschläge eine tiefe Verzweiflung am Leben, eine Familienstruktur, die sich für Einzelne anfühlt wie ein Fluch.
Delphine de Vigan hat diesem Fluch widerstanden und ihn, wohl auch für viele andere Mitglieder ihrer Familie durch das Schreiben gebannt. Das darf man jedenfalls annehmen, wenn sie die Suche nach ihrer Mutter und ihrem Leben für sich so zusammenfasst: „Jetzt suche ich nicht mehr (…) ich verstehe Lucile, wie sie gerne verstanden wurde: wortwörtlich (…) Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig. Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.“
Delphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter, Droemer 2014, ISBN 978-3-426-30412-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-10-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.