Dem kurzen Roman liegt, auf raffinierte Art verzögert enthüllt, eine Art Agatha-Christie-Plot zu Grunde. Ein etwas zurückgebliebener Hausdiener (Aimé, von ihm bekommen wir die Geschichte erzählt) empfängt auf einem Landgut fünf Zugereiste, welche alle in irgendeinem Verhältnis zum soeben verstorbenen Hausherren standen und sich Hoffnung aufs Erbteil machen dürfen. Von Anfang an wirkt der Bericht vom Tod des alten Monsieur Louis nicht ganz stimmig und als auch noch Madame Truchon verstirbt, steht für uns mehr oder weniger fest, dass wir es mit dieser Art Buch zu tun haben, wo sieben Menschen an einem abgelegenen Ort eingeschlossen werden, nach und nach immer weniger werden, weil einer ein Mörder ist. Dessen Motiv es erst einmal herauszubringen gilt.
Da gibt es noch einen zweiten Diener, dem man das Gesicht mit Säure zerstört hat. Einen alten Polizisten mit Waffensammlung, der von einer verstorbenen Frau und deren vor der Hochzeit hastig weggegebenem Baby erzählt. Einen Offizier im Ruhestand und einen schwulen Bordellbesitzer aus der Nachbarschaft. Sowie das Ehepaar Truchon, die besten - und mehr oder weniger einzigen - Freunde des Hausherren Louis Yoke, von daher die zu erwartenden Erben, - hätte nicht auf der Wildschweinjagd im Vorjahr Herr Truchon versehentlich einen Schuss auf Louis Yoke abgefeuert.
De Turckheims ganz besonderes Geschick liegt darin, auf mehr oder weniger jeder Buchseite ein neues winziges Puzzlestückchen von der einen bösen Geschichte, in der diese Leute einst alle eine Rolle gespielt hatten, zu enthüllen, dennoch den Leser die längste Zeit kein Land erkennen zu lassen, wer denn von wem geschädigt worden war und einen Anlass zur Vergeltung hatte. Die entscheidende Stufe zur Lösung des Rätsels ist erklommen, als wir von einer schönen jungen Frau namens Lucette erfahren und der wie trottelig palavernde Aimé fallen lässt, diese, obwohl nicht viel älter, sei ja seine Mutter gewesen.
Was rustikal idyllisch begonnen hatte - mit einer klassischen Romanze zwischen zugereistem Hund und einheimischer Katze -, entpuppt sich als Abgrund von Monstrositäten: Vergewaltigung, Eifersucht, Erberschleichung, Selbstmord, Mordanschläge, Kindesmissbrauch, Abrichtung zur Prostitution, häusliche Gewalt. Alles hängt mit dieser Lucette zusammen, alles ist ihre Geschichte. Der tumbe Sohn Aimé heißt zwar noch so, liebt aber keinen (mehr), sondern ist zu Lucettes Vollstrecker geworden.
Zitat:
Wie ich die Treppe runterkomme, ist der Salon leer bis auf Katze Njama und Pistache, denen der ganze Menschenzirkus egal ist in ihrer vollkommenen Liebe, was die Pfote von Pistache um den Hals von Njama beweist. Ich sehe, wie Abdallah die Trage mit Paulette im Regen in den Rettungswagen hievt und ein paar Worte zum Wachtmeister sagt, der nickt und wieder wie ein Polizist dreinschaut, der Sanitäter und Ambulanzen gewohnt ist. Sacha Milou steht etwas abseits und dividiert und addiert sich mit einem ganz fröhlichen Mund sein Erbteil zusammen. Ich laufe durch den Dreck zum Rettungswagen und erinnere mich an den Tag, wo ich schon einmal durch den Dreck zum Rettungswagen gelaufen bin und Abdallah mich mit so einem Blick angeschaut hat, dass ich mich nicht gleich in den Brunnen stürzen soll.
Wie ich die Treppe runterkomme, ist der Salon leer bis auf Katze Njama und Pistache, denen der ganze Menschenzirkus egal ist in ihrer vollkommenen Liebe, was die Pfote von Pistache um den Hals von Njama beweist. Ich sehe, wie Abdallah die Trage mit Paulette im Regen in den Rettungswagen hievt und ein paar Worte zum Wachtmeister sagt, der nickt und wieder wie ein Polizist dreinschaut, der Sanitäter und Ambulanzen gewohnt ist. Sacha Milou steht etwas abseits und dividiert und addiert sich mit einem ganz fröhlichen Mund sein Erbteil zusammen. Ich laufe durch den Dreck zum Rettungswagen und erinnere mich an den Tag, wo ich schon einmal durch den Dreck zum Rettungswagen gelaufen bin und Abdallah mich mit so einem Blick angeschaut hat, dass ich mich nicht gleich in den Brunnen stürzen soll.
Das nun ist Geschmackssache: So mancher wird begeistert sein und von einem kleinen Wunderwerk von exakter Konstruktion, erzählerischem Postmodernismus und schwarzhumoriger Hinterfotzigkeit schwärmen. Die Verfilmung kann kommen und wird wohl weniger die Süffisanz von Chabrols „Die untreue Frau“ zeigen als eher die norwegische Ruppigkeit von „Ein Mann von Welt“ oder „Einer nach dem anderen“ (beide von Hans Petter Moland und mit Stellan Skarsgard, der für die Figur des Achtundzwanzigjährigen leider nicht mehr geht).
Mich dagegen hat „Im schönen Monat Mai“ kalt gelassen und mit einer Frage konfrontiert, die beim Lesen so manchen Daniel-Kehlmann-Buchs schon aufgekommen war: Wie kann etwas, das weder an einer eigenständigen neuen Sprache oder Ausdrucksform arbeitet, noch Stoff zur Durcharbeitung aus den inneren Konflikten seines Autors gewinnt, noch irgendwelche relevanten Aussagen über die heutige Welt und die Mentalität von deren Bewohnern trifft, ein wirkliches Werk der Kunst genannt werden?
Es ist Trivialliteratur, auch wenn der literarische Betrieb momentan keine Unterscheidung treffen mag: Immerhin ginge es bei Kehlmann doch um Probleme der Gültigkeit von Wirklichkeitswahrnehmung, immerhin habe der Mann ja Nabokov studiert. Immerhin sei das Muster der Christie-Closed-Room-Mystery für de Turckheim nur eine Referenzgröße, auf die sie zwinkernd sich beziehe, sei das Buch kein Krimi, falle es gar nicht leicht, mit der Erzählerin im Geiste Schritt zu halten, erzähltechnisch sei alles wirklich elaboriert!
Na ja. De Turckheim hat die zur Zeit in Frankreich gängige Schein-Schlichtheit von (dort, aber nicht bei uns) gefeierten Schriftstellern wie Jean Echenoz, deren Büchlein wirken, als könnte jeder achtundzwanzigjährige Domestike sie schmökern. (Aber natürlich tut es keiner und es gibt Gründe.) Andererseits: „Im schönen Monat Mai“ läuft nicht nur eigentlich austauschbar im Mai und in dieser stillen Gemeinde Saint-Benoit-sur-Leuze ab, sondern spielt sowieso in einer Welt, deren exakten Ort und deren genaue historische Position niemand anzugeben vermöchte. Mehr oder weniger identisch könnte die Mär auf einige Jahre nach der Niederlage von 1870 datiert werden oder in die dreißiger Jahre hinein, anfangs gelesen wird sie vom naiven Leser als „heutig“, erweist sich aber, Chabrol-Krimi-gemäß, zurück verschoben in die sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Oder eben ins Hirn einer Leserschaft, die noch mit Gabin-Krimis und dem großen Hercule Poirot aufgewachsen ist.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2015-06-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.