Im Jahr 1895, also vor einhundertvierzehn Jahren, erschien der Roman Emile Zolas. In ihm werden Vorgänge an der Pariser Börse während des II. Kaiserreichs in den Jahren zwischen 1864 und 1867 beschrieben, die zu einem Crash führten und maßgeblich zu einer auch politischen Baisse Frankreichs führten, die mit der Niederlage im Krieg gegen Deutschland in den Jahren 1870/71 ein böses Ende fanden.
Obwohl der Handlungsrahmen einer Fiktion entspricht, gelingt es Zola, das Wesen der Börse und ihrer Zyklen zwischen Hausse und Baisse in exorbitant kunstvoller Weise zu charakterisieren. Ausgangspunkt ist das Zusammentreffen des momentan abgehalfterten Spekulanten Saccard und einem mittellosen Geschwisterpaar, das einige Jahre im Nahen Osten verbracht hat. Während der Bruder Hamelin, ein Ingenieur, davon träumt, den Nahen Osten durch Schifffahrtskonsortien, Eisenbahnen und den Bau von Silberminen zu erschließen, gebärdet sich dessen Schwester Caroline als mäßigendes, liebevolles Gewissen. Als Saccard die Pläne des Bruders erfährt, stachelt er beide zu einem groß angelegten, börsennotierten Unterfangen auf, das in der Gründung der Banque Universelle ihren ersten Höhepunkt erreicht und zu einem Kampf auf Leben und Tod mit dem allmächtigen Bankier Gundermann führt, der seinerseits dem Spekulationswahn abhold ist und eine realistische Vorstellung von der Wertbemessung handelsfähiger Papiere hat.
Der Feldzug Saccards besteht in der Bildung eines Konsortiums, das ein hohes Stammkapital zeichnet, aber de facto nie einzahlt. Durch Bilanzierungstricks und Spekulation mit eigenen, nicht geldmäßig hinterlegten Aktien treibt Saccard die Kurse der Banque Universelle in die Höhe, ohne dass die Aktivitäten im Nahen Osten Wertschöpfungen zeitigten, die auch nur annähernd die Bewertung an der Börse legitimierten. Saccard zieht alle Register, unterhält Strohmänner, gründet Briefkastenbanken in Rom und Istanbul und kauft konservative Zeitungen, mit denen er seinen Schwindel durch begünstigende Meinungsbildung eskortiert.
Zwar ist sehr früh zu ersehen, dass die künstlich erzeugte Hausse keinen Bestand haben wird, doch Zola nutzt in seiner Figuration die Vorzeichen des Niedergangs, um sich mit einer ihm typischen Akkuratesse der Psychologie der Spekulation zu widmen, die aufgrund der zyklisch immer wiederkehrenden und höchst aktuellen Ursachen eines Börsenkrachs als ein unverzichtbarer Beitrag der Erklärung zu gelten hat. Obwohl es in dem von Zola erschaffenen Panoptikum von windigen Abkochern, kriminellen Bankrotteuren, abscheulichen Schuldeintreibern, gierigen Aufkäufern und süchtigen Spielernaturen nur so wimmelt, dechiffriert er auch das große Potenzial der Börsentäuschung, nämlich das der bürgerlichen Kleinanleger, die mit wachsender Gier der trügerischen Option des Märchens vom plötzlichen Reichtum jenseits der realen Wertschöpfung anheim fallen. Letztendlich sind sie es, die der Vernunft einen Laufpass geben und ihr an und für sich bescheidenes Wohl hart erarbeitet haben, um es dann im Rausch der Spekulation bar jeglichen Verstandes in den Orkus zu schießen.
Die Großen, wie der Bankier Gundermann, haben eine sehr präzise Vorstellung davon, wie der Wert bestimmt wird und welche Wachstumsprognosen solide sind. Deshalb sind auch sie es, die den Kampf an der Börse gewinnen, die Regisseure der künstlichen Hausse hingegen landen im Gefängnis oder in der Versenkung oder sie starten ihr Spiel erneut an einem anderen Ort und unter anderem Namen. Die Opfer hingegen sind die Träger der Illusion, dass Reichtum aus dem Nichts entsteht und ohne Anstrengung erworben werden kann.
Zola gelingt es, die Funktionsweise der Börse transparent zu machen, er enttarnt die Camouflage der Spekulation, aber er ist auch so redlich, den positiven Nutzen und die Notwendigkeit einer funktionierenden Börse nicht zu negieren. Und die Aktualität ist verblüffend, denn bei der Lektüre vermisst man nur Namen wie Freddie Mac, Fanny Mae oder Lehman, denn die handelnden Figuren und Konsortien kommen einem seltsam vertraut vor.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-06-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.