Das chinesische Sprichwort, wonach man jemandem, den man wirklich hasst, den Fluch „Mögen Sie in interessanten Zeiten leben!“ an den Kopf wirft, hat sich der bekannte slowenische Philosoph in paraphrasierter Form als Titel für sein Essay ganz bewußt ausgewählt. Die „ontologische Katastrophe“ in der wir uns heute, mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall befinden, läßt träumen von den Zeiten, als die Welt noch dichotomisch in Gut und Böse (ein)teilbar war, uninteressant waren jedoch auch jene Zeiten nicht. Denn selbst damals war es nicht immer so einfach, dessen ist sich auch Zizek bewußt, der mit vorliegendem Beitrag wohl noch ein bißchen Öl ins Feuer gießen möchte, besonders dann, wenn er sich selbst als Kommunisten bezeichnet - aber natürlich in rein philosophischem Sinne! Die „kühne Äußerung“ Chrustschows, der während seines Besuches in den USA im Jahre 1959 prophezeite „Eure Enkeln werden Kommunisten sein“ erhält durch Zizeks Betrachtungen wieder Auftrieb, obwohl man sie schon 1968 als eingetreten betrachten könnte. „Occupy Wallstreet“, der New Yorker Börsenbesetzer mit denen sich unlängst auch Zizek solidarisch erklärte, ist vielleicht eine Brise vom selben Ozean her, dem Schwarzen Meer.
Vorhergesagte Revolutionen finden (doch) nicht statt
Dass Intellektuelle, die ansonsten ja ein sehr komfortables und glückliches, sicheres Leben führen würden, gerne Katastrophen herbeireden, um sich selbst für eine höhere Bestimmung und als Propheten der kommenden Unglücke darzustellen, merkt Zizek, der ja besonders auch für seinen Humor bekannt ist, süffisant an: „Es gibt nur eine Situation die noch schlimmer ist als jene, nicht das zu bekommen, was man will: nämlich diejenige, in der man es wirklich bekommt.“ Anders ausgedrückt, von Nietzsche: „Das Gute mißfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.“ Sollte dann eine Revolution tatsächlich stattfinden, so kann der Intellektuelle - während sich sein Herz am Gedanken an diese Ereignisse erwärmt - weiterhin seine akademische Laufbahn befördern, wie Zizek nicht ganz ohne Selbstironie noch hinzufügt. Ob dies tatsächlich nun „eine Kategorie der Wahrheit“ (Copyright Zizek) darstellt, dass sei in Frage gestellt. Zizek erbarmt sich jedenfalls auch so trauriger und umso profanerer Umstände, wie der Partnervermittlungsagenturen des Internets. Philosophie für den Hausgebrauch sozusagen.
Liebe im Internet - ohne Zug
Dass sich immer mehr Männer und Frauen des 21. Jahrhunderts im Internet kennen lernen. Die Partnervermittlungsagenturen vergleicht er in Anlehnung an Alain Badiou – mit den arrangierten Ehen des 19. Jahrhunderts: „Das eigentlich Wagnis des `Verliebens´ wird außer Kraft gesetzt“, habe man einmal den geeigneten Partner aus dem Katalog ausgewählt, wie stelle man dann sicher, dass sich beide tatsächlich lieben würden? Bei der Partnersuche im Internet präsentiere sich jeder Partner als Ware und führe seine Qualitäten und Fotos an. Die Wirklichkeit ist dann selbstredend enttäuschend, denn es spielt sich vor allem alles im Kopf des Betrachters ab, die Phantasie hat oft nichts mit der Realität zu tun und oft befriedigt sich eben genauso, wird zur Stimulans der eigenen Bedürfnisbefriedigung, der Partner wird nach den eigenen Visionen zurechtgestutzt und „schön geredet“ oder gemacht. Der Grund für diese Enttäuschung bestehe aber nicht darin, dass wir uns selbst in unserern Selbstdarstellung idealisieren, so Zizek, sondern „darin, dass diese Selbstdarstellungen sich zwangsläufig auf die Aufzählung von abstrakten Eigenschaften (Alter, Hobbys und so weiter) beschränkt.“ Es fehle Freuds „einziger Zug“, jenes „je ne sais quoi“, welches mich sofort den anderen gern haben oder ablehnen lässt. Liebe werde zu einer Wahl, die per definitionem als Notwendigkeit erfahren wird, ist also definitionsgemäß demnach gerade nicht Liebe. Sie sei vielmehr ein Gefühl, „als hätte mich die ganze Ewigkeit auf diese Begegnung vorbereitet“, schreibt Zizek. Das Lebewesen sei schließlich eine Substanz, wohingegen das Subjekt ein Ereignis ist, so Deleuze.
Noch viel „interessantere“ Dinge
Aber zurück zur Politik: Der Kapitalismus sei heutzutage die eigentliche revolutionäre Instanz, er veränderte in den letzten Jahrzehnten unsere ganze Landschaft, von der Technik zur Ideologie und nicht zuletzt auch die Liebe, wie oben angesprochen. Der Mensch würde immer mehr passiv, aber gerade „diese seine Passivität setze die performative Wirksamkeit der Dispositive außer Kraft“, lasse „die Regierungsmaschine leerlaufen und verwandle sie in eine Selbstparodie, die keine Nutzen besitze“, so der Philosoph. Letztes Statement erinnert frappant an den Film „Brasil“ (1985) von Terry Gilliam, indem eine Fliege einen ganzen autoritären Führerstaat aus den Angeln hebt. Statt „Alles ist möglich“, müsste es heute heißen: „Das Unmögliche geschieht“. Der König Zufall regiert! Als Kommunist handeln, heiße, in das Reale des Grundantagonismus eingreifen, der dem heutigen globalen Kapitalismus zugrundeliegt. Insofern betreffe der Kommunismus also auch das Reale. In dem Kapitel „Oh‘ Erde, fahle Mutter!“ schreibt Zizek aber auch, dass immer mehr die Natur der gesellschaftlichen Expansion eine Grenze setze.
Nicht zu radikal, sondern nicht radikal genug
Die großen ökologischen Katastrophen des Jahres 2010 könnten gar als Vorboten von „noch `interessanteren´ Dingen“ interpretiert werden: die vulkanischen Aschewolken aus Island, die Erdrutsche in China, das Feuer in Moskau, das Öl im Golf von Mexiko: die vier Elemente Luft, Erde, Feuer, Wasser wurden von den vier apokalyptischen Reitern über den Planeten verteilt und ließen auch die Frage nach Schuld und Verantwortung zu, aber diese reductio ad absurdum mache die Logik zunichte. „Sie (die Frage nach den/m Schuldigen, JW) ist nicht zu radikal, sondern nicht radikal genug. Die wahre Aufgabe besteht nicht darin, von den Verantwortlichen Entschädigungszahlungen zu erhalten, sondern die Situation so zu verändern, dass sie nicht mehr länger in der Lage sein werden, Schaden zu verursachen.“ Gerade diese Dimension fehle aber, nicht nur in der Reaktion Obamas bezüglich des Ölfiaskos 2010. Lenin in bester Becket`scher Bestform („Westward Ho“) müsse man wie ein Mantra zu wiederholen wissen: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Auf dass wir irgendwann wieder in uninteresanten Zeiten leben können.