Biographien Rezensionen Diskutieren im versalia-Forum Das versalia.de-Rundschreiben abonnieren Service für Netzmeister Lesen im Archiv klassischer Werke Ihre kostenlose Netzbibliothek

 


Rezensionen


 
Serhij Zhadan - Anarchy in the UKR
Buchinformation

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk geboren, wurde 2022 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an den ukrainischen Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Musiker Serhij Zhadan verliehen. Er studierte in Charkiw Literaturwissenschaft, Ukrainistik sowie Germanistik und promovierte 1996 mit einer Arbeit zum ukrainischen Futurismus. Er gehörte zu den Protagonisten einer Postsowjet-Szene in der Ukraine, die Literatur- und Musikfestivals organisierte und sich sozial und kulturell engagierten. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar 2022 leistet er humanitäre Hilfe.

Postsowjetisches Melodrama

Die vorliegende Publikation stammt aus dem Jahre 2007 und versammelt Texte, die zu einer Zeit entstanden, die noch voller Hoffnung waren und vor jugendlichem Widerstand und Aufbegehren zu so strotzten. Der Ich-Erzähler macht sich auf die Suche nach den Spuren des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus und dessen Leitfigur Nestor Machno. Letzterer führte zwischen 1917 und 1921 den Kampf gegen die Konterrevolution in der nach ihm benannten Machnowschtschina, ein von Anarchisten kontrolliertes Gebiet in der Ukraine. Nach dem Bürgerkrieg wurde die Bewegung allerdings von der Roten Armee vernichtet und Machno türmte nach Paris, wo er als Bühnenarbeiter in der Pariser Oper arbeitete. Sein Grab befindet sich auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Aber so weit kommt der Protagonist von Anarchy in the UKR gar nicht, denn er ist mit Autostop unterwegs und besucht besonders die Gebiete Luhansk, Woroschilowgrad, Starobilsk, und den Donbas. Aber natürlich treibt er sich auch auf den Bahnhöfen herum, wo "Krethi und Plethi zusammenkam, Alkoholiker und Huren, Veteranen und alte Kumpel". Er schweift in Kindheitserinnerungen, auf den Bahnsteigen seiner Kindheit aber erwähnt drohend, dass "jede Rückkehr in die Kindheit ein schlimmes Ende nimmt". Überhaupt sei die Rückkehr an Orte der Kindheit fast dasselbe wie die Rückkehr in "ein Krematorium, in dem du schon einmal verbrannt wurdest". In den Gesichtern der Bewohner sucht er nach Spuren des Anarchosyndikalismus, aber außer Spuren von Alkoholismus nichts findet. "Jeder sieht im Fluß seine eigenen Ertrunkenen", denkt er sich gegenüber einer Museumsdirektorin, die den Wald von Dibriwka mit keinem Wort erwähnt, wo nämlich die Machno-Eiche stand, die bei einem Pionierfest bei Lenins Geburtstag abgefackelt wurde. "Dunkelheit ist etwas, das außerhalb von dir existiert", schreibt Zhadan an einer Stelle, aber daran darf man seine Zweifel haben.

Junajted Stejts dich ins Knie

Im zweiten Teil erzählt er aus seinen "Achtzigern", einer Zeit, in der die Leute anfingen ihre Zigaretten an Lenin-Denkmälern auszudrücken, seine Kindheit aber voller riesiger, unglaublicher, reich gedeckter Tische war, egal ob Trauerfall oder Jubiläum, Speisen und Getränke suggerierten ein unbekümmertes Leben, eine schöne Kindheit. Aber auch der militärische Drill beim Sport und sinnlose Manöver mit Gasmasken mitten in der Nacht werden thematisiert, oder sein Plattenverschleiß, die der Vinylhaber nicht nur im Eigenheim, sondern auch an einem Fluß zelebriert. Oder im Pionierpalast der "ganz nah war, wie die totale Negation all unserer kindlich-naiven Lebensvorstellungen" und bald begreift er, dass "niemand, egal wo und wann und unter welchen Umständen, auf mich wartete, es gibt keinen Hafen, egal ob ich dreimal Heide oder Held der Wehrmacht bin, niemand bezieht mir ein warmes Bett, niemand schaut aus dem Fenster, um auf der nächtlichen Straße meine Silhouette zu entdecken". Im letzten Kapitel schreibt sich Serhij Zhadan zu seinen Lieblingstiteln der westlichen Rockmusik die Finger aus dem Leib und keiner der Titel hat wirklich etwas mit seinem Text zu tun, ist aber dennoch eine Hommage an den Aufbruch und den open space, den der Zusammenbruch des Sowjetsystems ermöglichte. Ohne weiteres könnte man Serhij Zhadan als einen postsowjetischen Jack Kerouac bezeichnen, denn er trampt durch die Ukraine, wie ein Biograph seines Landes, das gerade begann seine Flügel auszubreiten, bis 2014 das Unglaubliche geschah. Von Serhij Zhadan sind noch viele weitere Werke erschienen, zuletzt, 2022, "Mesopotamien" oder auch der Roman "Depeche Mode".


Serhij Zhadan
Anarchy in the UKR
Originaltitel: Anarchy in the UKR (Folio, Charkiw)
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
2022/2007, Broschur, 216 Seiten
ISBN: 978-3-518-12522-9
edition suhrkamp 2522
Suhrkamp Verlag, 3. Auflage, Deutsche Erstausgabe
14,00 € (D), 14,40 € (A), 20,90 Fr. (CH)
ca. 10,8 × 17,6 × 1,4 cm, 138 g
Suhrkamp Verlag

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-09-16)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


-> Möchten Sie eine eigene Rezension veröffentlichen?

[ weitere Rezensionen : Übersicht ]

 

Anmelden
Benutzername

Passwort

Eingeloggt bleiben

Neu registrieren?
Passwort vergessen?

Neues aus dem Forum


Gedichte von Georg Trakl

Verweise
> Gedichtband Dunkelstunden
> Neue Gedichte: fahnenrost
> Kunstportal xarto.com
> New Eastern Europe
> Free Tibet
> Naturschutzbund





Das Fliegende Spaghettimonster

Ukraine | Anti-Literatur | Datenschutz | FAQ | Impressum | Rechtliches | Partnerseiten | Seite empfehlen | RSS

Systementwurf und -programmierung von zerovision.de

© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz

v_v3.53 erstellte diese Seite in 0.023873 sek.