Das „Staunen“ gilt gewissermaßen als „Anfang der Philosophie“ und auch von späteren Philosophen wurde darauf gerne Bezug genommen. „Staunen“ auf Griechisch ist wahrscheinlich auch im Sinne von „Verwunderung“, „Erstaunen“ und Neugier(de) interpretierbar und gilt seit Platon (im Theaitetos) und Aristoteles (im ersten Buch der Metaphysik) als der Ausgangspunkt des Philosophierens und Erkennens. Aristoteles nimmt in seinem Werk einen Gedanken seines Lehrers und Vorbildes – nämlich Platon – wieder auf. Das Originalzitat Platons dürfte in etwa so gelautet haben: „Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“
Das Seiende als Seiendes
Die Metaphysik (Originaltitel τὰ μετὰ τὰ φυσικά – ta meta ta physika – „Das hinter, neben der Physik“) des Aristoteles ist eigentlich eine Textsammlung, deren Bezeichnung gar nicht von Aristoteles selbst stammt, sondern geht möglicherweise auf Andronikos von Rhodos zurück, der die losen Schriften erst 200 Jahre später fand und kompilierte. Der Gegenstand des Werkes, das aus mehreren Teilstücken besteht, wird von Aristoteles selbst so umrissen: „Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein vom Seienden als Seienden, sondern sie grenzen sich einen Teil des Seienden ab und untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen, wie z.B. die mathematischen Wissenschaften. Indem wir nun die Prinzipien und höchsten Ursachen suchen, ist offenbar, dass diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich sein müssen.“ (Met. IV 1, 1003 a 21 – 28)
Die fünf Stufen der Erkenntnis
Die verschiedenen Etappen oder Stufen des Erkennens von Aristoteles könnten auch beim Verständnis der Lektüre der „Metaphysik“ helfen: Er spricht von der: a.) Wahrnehmung (aísthēsis) b.) Erinnerung (mnḗmē): Lebewesen, die über Erinnerung verfügen, sind „verständiger und gelehriger als die, welche sich nicht erinnern können“ (980 b 21 f.) c.) Erfahrung (empeiría): „Aus der Erinnerung entsteht für die Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen hinsichtlich desselben Gegenstandes führen zu einer einheitlichen Erfahrung“ (980 b 28 – 981 a 1). d.) Kunst (téchnē) entsteht, „wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet“ (981 a 5–7). e.) Wissenschaft (epistḗmē). Die Natur der Prinzipien und höchsten Ursachen steht also im Mittelpunkt von Aristoteles‘ Suche, denn das Seiende als solches hat gewisse eigentümliche Merkmale, und sie sind es, hinsichtlich deren „der Philosoph die Wahrheit zu erforschen hat“.
Aristoteles und Alexander
Der „Stagirite“ (*ca 384/83 in Stageira/Thrakien) wurde im Gegensatz zu seinem großen Lehrer Platon eher als „Provinzler“ gesehen, da er - anders als sein Vorbild - kein Bürger von Athen, der geistigen Hauptstadt der antiken Welt, war. Aristoteles war zwar kein Aristokrat, aber auch nicht arm, denn sein Vater ließ ihn immerhin – nach Befragung des Orakels – studieren gehen. Seine bürgerliche Lebensführung, die großen Anteil auch an materiellen Gütern dieser Welt nahm, unterschied ihn auch wesentlich von einem anderen seiner Zeitgenossen, nämlich Diogenes, jener, der in einem Fass gelebt haben soll und einst zu Alexander, dem Großen auf die Frage nach Begleitung zu seinen Feldzügen nur geantwortet haben soll: „Μικρὸν ἀπὸ τοῦ ἡλίου μετάστηθι.“ („Mikron apo tou hēliou metastēthi.“/„Geh mir aus der Sonne“.) Anders als Diogenes soll Aristoteles den 13-jährigen Knaben Alexander aber sehr wohl unterrichtet haben und ist damit vielleicht indirekt auch für seine Megalomanie verantwortlich zu machen. Macht und Geist lebten für lange Zeit nebeneinander und man weiß bis heute nicht mehr darüber, wie sehr Aristoteles pädagogisch auf Alexander denn nun wirklich Einfluss genommen hat.
Aristoteles und die Herumwandler
Als Platon starb wurde aber nicht etwa Aristoteles sein Nachfolger, sondern ein anderer und so geschah es, dass Aristoteles und Alexander in Makedonien aufeinandertrafen. Später jedoch, als sich seine Verstimmung gegenüber den Athenern wieder gelegt hatte, zog Aristoteles nach Athen zurück und gründete eine eigene Akademie. Seine Anhänger sollen „Peripatetiker“ genannt worden sein, also „Herumwandler“. Aristoteles selbst habe im Gegensatz dazu zwar gerne mal ein Schläfchen gemacht, wobei er sich einen Schlauch heißes Öl auf den Bauch gelegt haben soll, aber zudem auch eine Kugel in die Hand genommen, damit er - wenn sie in eine bereitgestellte Schüssel fällt - ohne Verzögerung mit seinem Philosophieren fortfahren konnte. Erwähnt soll zum Schluss aber auch noch ein wichtiges Stichwort werden, das mit Aristoteles untrennbar verbunden ist: entelechia. Mit diesem Begriff beschreibt er, dass jedes Lebewesen den Zweck und das Ziel in sich selber trägt und es sich dieser seiner inneren Zielstrebigkeit gemäß entfalte.
“Unsterblich zu sein“
„Der Mensch muss in Wahrheit zum Menschen werden, das ist seine ihm eigentümliche Bestimmung.“ Mit diesen und ähnlichen Aussagen wird Aristoteles auch als Ahnherr des Humanismus bezeichnet: „Der Mensch ist aus dem Grunde seines Wesens heraus gut; seine sittliche Aufgabe besteht deshalb darin, die ursprüngliche Güte seines Wesens zu verwirklichen.“ Im Unterschied zum Tier besitzt der Mensch Vernunft, also den Logos, die Fähigkeit, die Dinge zu erkennen und in Erscheinung zu bringen. Die höchste menschliche Lebensform sei die des Erkennenden, nicht aber die des Handelnden. Sittlich sei nämlich nur ein Handeln, das sich nicht blindlings von den Leidenschaften leiten ließe, sondern in dem der Mensch besonnen und durch Vernunft sein Dasein gestalte. Das letzte Wort hat aber auch bei Aristoteles: Gott. Er ist das letzte Wort. Als „Fabeldichter“ und „ranziger Philosoph“ von Martin Luther verschrien fand er seinen Weg in die mittelalterliche Philosophie über den Umweg des arabisch besetzten Andalusien und wurde von dort aus auch zu einem „Wegbereiter Christi im Felde des Natürlichen“. „Man darf nicht auf die Mahnung jener hören, die sagen, der Mensch solle nur an Menschliches, der Sterbliche nur an Sterbliches denken; wir sollen vielmehr uns bemühen, soweit dies möglich ist, unsterblich zu sein.“
Hans Günter Zekl
Aristoteles: Metaphysik
übersetzt und kommentiert von Hans Günter Zekl
Königshausen & Neumann,
Würzburg 2003,
ISBN 978-3-8260-2555-6.
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-06-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.