Anne Zazzo ist die Kuratorin des Modemuseums in Paris und hat sich also solche wohl auch in die Keller ihres eigenen Archivs begeben, um die hier vorgestellten kulturgeschichtlichen Schätze zu bergen. Genauso wie das wirklich Wertvolle in Kellern, Safes oder hinter Panzerglas verborgen wird, ist auch vorliegendes Buch hinter einem knallig pinkfarbenen Schmuckschuber aus Seide verborgen und mancher Schelm wird beim Aufziehen der schwarzen Samtschleife, die die beiden Buchdeckel verbindet, wohl an etwas ganz Anderes denken, denn eigentlich gleitet das Buch auch ganz leicht, wie von selbst, aus seinem engen Korsett, man braucht es nur etwas zu neigen. Das Cover des Buches selbst ist dann in papierenen Tüll gekleidet, Spitzenmuster allenthalben, die straff über die beiden Buchklappen gezogen sind und in das Innere der Materie, in medias res, führen.
Negligè, Reifrock, Korsett, Mieder, Corsage, Spitzenhöschen, Straps und Strumpf, BH oder String, das alles aus Seide, Spitze, Samt, Satin, die S-Klasse eben, eine S-Alliteration, die wohl beiderlei Geschlecht in sanftes Seufzen verfallen lässt. Die Dessous im Wandel der Zeit - von seinen bescheidenen Anfängen als weißes Nachthemd bis hin zu nietenbesetztem Leder - darzustellen ist das Anliegen der Kuratorin, die auch Modegeschichte schreiben möchte, wenn sie sie etwa mit der jeweiligen Zeitgeschichte verwebt und auch die stetigem Wandel unterworfene Sexualmoral analysiert.
„Die Anfänge des Voyeurismus. Von Troubadouren zu den Libertins“ heißt das erste Kapitel in dem Zazzo, ausgehend von der berühmten Filmszene Marilyn Monroes in „Das verflixte siebente Jahr“, in der MM alles und doch nichts zeigt, nicht nur Botticelli beschreibt, sondern auch die erotisierende Wirkung eines Hemdchens auf den Troubadour Bernart Marti, um 1150, zitiert: „Ich finde sie so fein, rund und glatt./Unter ihrem Hemd aus Reimser Stoff/Wenn ich sie erblicke, nun, dann,/Habe ich nicht die geringste Lust, den König zu sehen…“. Eine Abbildung eines Hemdes von Isabelle de France (1225-1270) macht klar, was die Troubadouren damals zu sehen bekommen haben dürften und diese matte, fast traurige Vexierfläche ihrer Phantasien und Wünsche scheint sie zu größeren Epen und Balladen angestiftet zu haben, als so manchen zeitgenössischen Dichter, der weder mit Worten noch mit der Laute – geschweige denn den Frauen - umzugehen weiß. Weite Armöffnungen wurden noch im 15. Jahrhundert als „Fenster zur Hölle“ tituliert, das Zurschaustellen weiblicher Unterwäsche galt lange Zeit als verpönt, was den Voyeurismus erst recht beförderte. Das „Urteil des Paris“ von Niklaus Manuel Deutsch spielt in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle: das Rezept des Voyeurismus sei es, den Blick des anderen zu beobachten, schreibt Zazzo. Kann man bei Deutschs Gemälde schon vom ersten Striptease der Kunstgeschichte sprechen? Eine Frau ist angezogen, eine im Unterkleid, die letzte nackt und über Paris schwebt ein blinder Cupidus mit geschürtztem Pfeil. Den Apfel bekommt übrigens weder die Nackte, noch die Angezogene – seien es denn tatsächlich drei verschiedene Frauen – sondern die im Negligè: Dessous gefielen wohl auch dem Paris und beeinflussten augenscheinlich auch sein Urteil?
„Die Verbreitung des Erotischen“, „Der gezähmte Körper“ und „Die Kultur des Hedonismus“ sind weitere Kapitel dieser kulturgeschichtlich interessanten und reich bebilderten Geschichte der Lingerie und der Verpackung des weiblichen Körpers. Spätestens in der Zwischenkriegszeit wurde aus der Scham auch ein Geschäft: das Kino, die Schallplatte, Illustrierte hielten die „Industrie des Verlangens“ (Anne Zazzo) am Laufen. „Die Rituale des Entkleidens werden erleichtert, die Grenzen der Schicklichkeit verschieben sich und mindern die Furcht vor der Nacktheit.“ Mit Pierre Sicards „Le Pigall`s“ wird die Vorstellung der Dessous vom Paradigma der Tiefe zu jenem der Oberfläche geführt. Dieser skandalöse Paradigmenwechsel hat weitreichende kulturelle Konsequenzen, denn die Lingerie wird nun nicht mehr nur den Kurtisanen und dem Rotlichtmilieu zugeordnet, sondern ab jetzt auch von der Dame von Welt getragen und natürlich auch gezeigt. Halasz Gyula genannt Brassai wird mit „Le Corset noir“ (1934) zum Wegbereiter einer bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden Fetischbewegung, der Alfred Binet in „Revue philosophique“ huldigt und dem von Richard Krafft-Ebing gleich zwei Ausdrücke hinzugefügt werden: Sadismus und Masochismus, in Anlehnung an Sacher-Masochs „Venus im Pelz“. Seither ist alles erlaubt, was beiderlei Geschlecht befriedigt und die „Kultur des Hedonismus“ (letztes Kapitel) verbreitet sich auch in den ärmlichsten Hütten und reichsten Palästen. Ende der Neunziger Jahre „erfindet“ der französische Spitzenhersteller Noyon die Mikrofaser, die eine Symbiose mit dem weiblichen Körper eingeht: der Frauenkörper wird zur technologischen Herausforderung. Ein Bild von einem Modell in einem Miederkleid aus metallisiertem Leder von D&G, „Androide“, spricht dabei Bände. „In einer Welt, in der, will man der Werbung Glauben schenken, sich jede Frau sexy fühlt, sobald sie sich wohl fühlt, ist der Voyeurismus kein Rezept mehr“, schreibt Anne Zazzo. Ist das nun also das „anything goes“ des 21. Jahrhunderts? „Gut“ ist, was gefällt. Solange es eben beiden gefällt.
Anne Zazzo
Lingerie
Die illustrierte Geschichte vom Mittelalter bis heute
Fotografien von Marc Walter
2009
Collection Rolf Heyne www.collection-rolf-heyne.de
192 Seiten 230 Abbildungen, farbig, Großformat 24 x 34 cm, Softcover mit Klappen in pinkfarbenem seidenbezogenen Schmuckschuber mit echter schwarzer Samtschleife
ISBN 978-3-899104332
49,90.-
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-01-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.