Der Spiegelredakteur Takis Würger hat nach seinem vielgelobten Debütroman „Der Club“, der 2017 bei Kein und Aber in Zürich erschien nun den Verlag gewechselt. Sein neuer Roman „Stella“ wird von Hanser in München verlegt und hat schon kurz nach seinem Erscheinen in der Szene der Kritiker heftige Reaktionen ausgelöst. Dazu später einige Worte.
Der Roman erzählt zunächst von der Kindheit und Jugend des 1922 in der Schweiz geborenen Friedrich, Sohn eines sehr reichen Samthändlers und einer alkoholabhängigen Mutter. Sein Vater erzieht ihn dazu, immer die Wahrheit zu sagen und ihr verpflichtet zu sein. Als er eines Tages mit anderen Jungen einen Kutscher mit Schneebällen bewirft und das auf dessen Vorhaltungen auch zugibt, verletzt dieser ihn schwer im Gesicht. Durch diese Verletzung, von der eine große Narbe an der Wange zurückbleibt, wird er farbenblind und kann fortan keine Farben mehr erkennen. Seine Mutter ist eine glühende Verehrerin von Hitler und seiner Bewegung.
Erwachsen geworden zieht es Friedrich nach Berlin, wo er in einer Kunstschule Unterricht nimmt. Er will herausfinden, was es mit den angeblich so starken Deutschen auf sich hat, und ob die Gerüchte über die Möbelwagen stimmen, mit denen die Juden im Schanzenviertel abgeholt werden. Sein reicher Vater, der nach dem Ende seines lukrativen Samtgeschäftes nach Istanbul gezogen ist und dort die Sufis studiert, finanziert seinem Sohn Friedrich das ganze Jahr 1942 über (über diesen Zeitraum erstreckt sich auch die Handlung des kurzen Romans) einen Aufenthalt im teuersten Hotel Berlins, dem Adlon.
Bei seinem Kunstunterricht lernt Friedrich in der ersten Stunde jene junge Frau kennen, die den Schülern Modell gestanden hat. Sie heißt Kristin und nimmt den unbedarften Friedrich mit in die Clubs Berlin, trinkt Champagner und Kognak mit ihm. Mit ihr hat der junge Schweizer seine ersten sexuellen Erfahrungen. Der Krieg, dessen Verlauf Takis Würger zusammen mit anderen mehr oder weniger wichtigen Ereignissen des jeweiligen Monats kapitel- und monatsweise dokumentiert, scheint weit weg.
Eines Tages bleibt Kristin tagelang verschwunden, bevor sie an einem frühen Morgen, schwer verletzt und mit blutigen Striemen im Gesicht an Friedrichs Hotelzimmertür klopft und ihm gesteht, ihn bisher über ihre wahre Identität belogen zu haben. Sie ist Jüdin, heißt Stella Goldschlag und die Gestapo hat ihre falsche Identität enttarnt. Ihre Eltern sind verhaftet worden und nur wenn Stella als sogenannte „Greiferin“ der Gestapo ihr bekannte Juden für die Verhaftung und Vernichtung zuführt, kann sie ihre Eltern vor der Deportation bewahren. Stella lässt sich darauf ein, und so wie die historische Stella Goldschlag wird sie auch weiter Juden verraten, auch nachdem ihre Eltern längst in einem KZ umgekommen sind.
Friedrich, der sich in Stella verliebt hat, wie besessen von ihr ist und sich auch mit dem SS-Offizier Tristan van Appen, der Stella seit langem kennt, gut versteht, ist hin- und hergerissen zwischen seiner Selbstachtung und seiner Entrüstung darüber, was Stella da tut und seiner Liebe zu ihr. Mit Hilfe seines Vaters wird der den Leiter des KZ-Gefängnisses Walter Dobberke vergeblich versuchen zu bestechen.
Am Ende wird er mit zwei Gefühlen in die Schweiz zurückfahren. Das erste ist die Erkenntnis, dass es sehr wohl so etwas wie Schuld gibt, obwohl sein Vater das in seiner Kindheit abstritt. Das zweite Gefühl ist Dankbarkeit Stella gegenüber: „Danke, dass du mir gezeigt hast, was Liebe ist.“
Immer wieder zitiert Takis Würger aus den originalen Protokollen eines Sowjetischen Militärtribunals über die hunderte von Fällen, in denen Stella Goldschlag Juden an die Gestapo verraten hat.
Das Buch hat wie zu Beginn erwähnt, sehr schnell eine noch andauernde so schon lange nicht mehr geführte Kritikerdebatte ausgelöst, in der es keine Zwischentöne mehr zu geben scheint.
Zugegeben, die Erfindung jenes doch ziemlich naiven jungen Schweizers, dem offenbar auch in diesen Zeit 1942 das Geld nicht ausgeht (schwer vorstellbar), der nach Berlin zieht und dort die historische Stella Goldschlag trifft und sich in sie verliebt, als Rahmen für ein Porträt dieser Frau und der Fragestellung der Bewertung ihrer Taten, scheint nur als Notlösung haltbar. Denn Stella Goldschlag selbst erzählen zu lassen, diesen Schritt hat der Autor nicht gewagt.
Doch die sehr grundsätzlich und moralisch gestellte Frage geistert durch die Feuilletons, ob man ein solches Thema auf diese Weise darstellen darf und kann. Während die Kulturredaktion des NDR das Buch zum „Buch des Monats“ gewählt hat, lehnen es andere zum Teil mit Empörung ab, so als hätte Takis Würger hier ein größtmögliches Sakrileg begangen. Es geht dabei um den Vorwurf der Effekthascherei, des Kitsches, die Tatsache, dass Würger beim Spiegel arbeitet, weckt bei vielen Assoziationen zum Fall Relotius. Letztlich geht es um die Frage: darf man in Deutschland über die Nazizeit und oder eine jüdische Hauptfigur auf eine so kurzweilige und unterhaltsame Weise schreiben? Darf ein Buch über ein solches Thema von einem Nichtjuden geschrieben werden und darf es unterhaltsam sein?
Hannah Lühmann schrieb in der WELT: "Warum sollte es denn verwerflich sein, einen kurzweiligen Roman auch über eine entsetzliche Zeit zu schreiben?"
Das habe ich mich beim Lesen und Schreiben auch gefragt. Dass man an der nun wirklich naiven männlichen Hauptperson einiges kritisieren kann, okay. Aber einem Autor quasi zu untersagen, eine solche Geschichte zu erfinden, grenzt an hypermoralische Zensur.
Takis Würger, Stella, Hanser 2019, ISBN 978-3-446-25993-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-01-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.