Die 1963 geborene amerikanische Schriftstellerin Jaqueline Woodson ist seit vielen Jahren eine der bekanntesten Jugendbuchautorinnen ihres Landes. Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden zwei Bücher von ihr in Deutschland veröffentlicht, ansonsten ist ihr hier vorliegender Roman „Ein anderes Brooklyn“ ihr erster literarischer Auftritt in Deutschland. Neben Jesmyn Ward (vgl. zuletzt Ihren Roman „Singt ihr Lebenden und Toten, singt“ bei Kunstmann) darf sie zu den herausragendsten jüngeren schwarzen Autorinnen in den USA gelten, die irgendwann einmal in die Fußstapfen einer Toni Morrison oder Alice Walker treten können.
In knappen Sätzen und kurzen Kapitel aber mit umso eindringlicherer Sprache lässt Jaqueline Woodson ihre Ich-erzählende Protagonistin August nach einem langen Auslandsaufenthalt als Anthropologin zurückkehren nach Brooklyn n New York. Ihr Vater ist an Leberkrebs gestorben und August hat die letzten Lebenstage an seiner Seite verbracht.
Und während sie alles Nötige veranlasst, denkt sie zurück an die Zeit ihrer Kindheit in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als sie zusammen mit ihren Freundinnen Angela, Gigi und Sylvia auf den Straßen Brooklyn in einer unzertrennlichen Beziehungen lebte und glücklich war. Schon damals war eine Entwicklung unübersehbar, als Weiße in zunehmendem Masse das Quartier verließen und Drogendealer und traumatisierte Vietnamveteranen in die leer werdenden Häuser und Wohnungen zogen.
Damals schienen die vier unverwundbar und nichts konnte ihrer Freundschaft etwas anhaben.
In einer eigenen, knappen und sehr poetischen Sprache schafft es Woodson, die in den USA mit diesem Buch lange auf den Bestsellerlisten stand und begeistert dafür gelobt wurde, diese jugendliche Unbeschwertheit, den Lebenshunger und das Glück dieser vier Mädchen erfahrbar zu machen, ebenso wie das Leid, das sie jeweils in ihrem privaten Umfeld zu erleiden haben und bei dem sie sich gegenseitig zur Seite stehen.
August fehlt die Mutter. Sie hat sich umgebracht. Sylvia muss sich mit ihren strengen Eltern arrangieren. Es geht um Armut, Kindesmissbrauch, Alkohol und Drogen und zu frühe Schwangerschaften –all das sind ständige Begleiter in Brooklyn.
Als die Mädchen nacheinander ihre erste Menstruation haben und zunehmend ihre Sexualität entdecken, beginnt die zuvor unzerbrechliche Freundschaft zu bröckeln. Später werden sie alle weggehen und /oder ihr eigenen Leben beginnen.
Als sie fast 40 Jahre später zur Beerdigung ihre Vaters nach Brooklyn zurückkehrt, sieht und erlebt sie „ein anderes Brooklyn“:
„Irgendwann“ so erkennt sie schmerzhaft, „wurde das ganze Leben, alles und jeder, Erinnerung.“
Ein dicht erzählter Roman, der mit seiner besonderen Atmosphäre und seiner großen sprachlichen Kraft überzeugt. Von dieser Autorin möchte man in den nächsten Jahren mehr ins Deutsche übertragene Bücher lesen. Auch auf Übersetzungen ihrer vielen Jugendbücher wäre ich gespannt.
Jaqueline Woodson, Ein anderes Brooklyn, Piper 2018, ISBN 978-3-492-05865-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-05-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.