Tom Wolfe wäre nicht Tom Wolfe, wenn es ihm nicht gelänge, einen Aufschrei der Entrüstung zu inszenieren. Der nunmehr über Achtzigjährige, der im kritischen Journalismus zuhause war, bevor er mit wahrhaft großen Romanen die Metropolen der USA aufs Korn nahm, um ihr Wesen ohne Camouflage der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, hat nach Bonfire of Vanities, in dem er New York den Spiegel vorhielt und A Man in Full, in dem er den Medienhype in Atlanta persiflierte, nun mit seinem neuen Roman Back to Blood die Multi-Kulti-Metropole Miami auf den Seziertisch gelegt. Und kaum ist das Buch auf dem Markt, da hagelt es Kritik, die New York Times, das Zentralorgan der White Anglo Saxon Protestants, schmetterte ihm in vollem Bewusstsein des diskriminierenden Charakters der Rezension sein Alter entgegen, das ihn hindere, den Zeitgeist und seine Erscheinungen zu begreifen.
Back to Blood hingegen ist der Beweis für seine nach wie vor investigative Routine, seinen scharfen Blick für das Charakteristische und seine ätzende Ironie, wenn es darum geht, das Ideologische zu entlarven. Miami, die Hauptstadt des kubanischen Exils, mit seinen Communities aus Haitianern, Afro-Amerikanern, Russen und geriatrischen Ostküsten-Wasps, seiner kubanischen Dominanz und mexikanischen Illegalität ist das Mekka dessen, was sich der Zeitgeist immer noch als das Hohelied der Diversity zu feiern getraut. Und Tom Wolfe, der Frondeur, hat sich eine Geschichte ausgedacht, die allen, die in dem Diversity-Gewebe leben und die Schmach des provinziellen Schattendaseins ertragen müssen, sehr bekannt vorkommen muss.
In einer mehrsträngigen Erzählung erfährt der Leser, was es heißt, sich im konstitutionell liberalen Amerika als nativer Kubaner integrieren zu wollen, wenn er sich in dem sozialen Netzwerk und der Parallelwelt eines gar nicht mehr in dieser Form existierenden Kuba bewegt. Was es heißt, unter falscher francophoner Identität dem Sog haitianischer Banden zu entrinnen. Was es heißt, als russischer Immigrant unter der Wucht krimineller Oligarchen der gleichen Provenienz zu leiden. Was es heißt, mit der desolaten Erosion des weißen, protestantischen Amerikas zu kämpfen, wenn man dem naiven Glauben anhängt, in einer tradierten konstitutionellen Demokratie zu leben, die die Jagd nach Freiheit und Glück ins Buch der Nation geschrieben hat.
Natürlich schlagen diese Welten aufeinander und natürlich versucht eine Gemeinde wie die Miamis, ihr Inferioritätsgefühl durch eine Positionierung in der Kunstwelt zu befrieden. Doch auch das Mäzenatentum ist ein Abbild der Machtkämpfe und des Betrugs, der Gier nach Dominanz und Ansehen. Die Enthüllung der Fälschung als Handlungsprinzip in Politik und Kunst, ihrerseits eine Signatur selbstverständlicher Dekadenz, würde die Lektüre zu einem Desaster machen, gelänge es Wolfe nicht, dennoch einige der Figuren durch ihre charakterliche Stärke, die nichts gemein hat mit den menschlichen Schwächen, denen alle erliegen, zu rehabilitieren. Dann blitzen sie auf, die Ideale, wenn sich ein Kubaner der zweiten Generation nicht von dem Machtspiel aller Beteiligten vom rechten Weg abbringen lässt, oder ein junger WASP es nicht einsieht, vom Pfad der Wahrheitssuche zu lassen und ein Afro-Amerikaner seine Karriere aufs Spiel setzt, um zu verhindern, die gute Leistung eines Kubaners dem Spiel der Macht zu opfern.
Tom Wolfes Buch ist ein ein großartiges Indiz für die Komplexität unserer Lebenswelten, und nur wenige wie er besitzen die Klasse, sie in ihren schillernden Farben fluoreszieren zu lassen.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-11-06)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.