Seit mehr als einem Jahrzehnt erreichen uns immer wieder Berichte über bedrohliche Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen. Von der Zeitbombe hinsichtlich generell falscher Ernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel angefangen bis hin zu Verhaltensstörungen, die auf mangelnde Erziehung zurückzuführen sind. Amokläufe erregen periodisch die Öffentlichkeit wie Übergriffe Jugendlicher auf ältere Personen in U-Bahnstationen oder Einkaufszentren. Das, was in anderen Epochen eher solitäre Vorkommnisse waren, aber dennoch zum Aufseufzen über die Jugend geführt hat, hat sich in seiner Qualität grundlegend gewandelt: Wir sprechen von Massenphänomenen, die pathologischen Charakter haben.
Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff befasst sich seit Jahrzehnten mit Fehlentwicklungen von Kindern und Jugendlichen. Immer wieder hat er seine Erfahrungen aus den Therapien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und frühzeitig warnende Worte gefunden. In dem vorliegenden Vortrag, der unter dem schlichten Titel Moderne Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen gehalten wurde, exakt eine Stunde dauert und an keiner Stelle langweilig wird, berichtet er über neue Quantitäten und Qualitäten. Sehr sachlich und immer aus Empathie gegenüber Kindern und Jugendlichen beschreibt Winterhoff die beobachteten Verhaltensstörungen. Waren es vor eineinhalb Jahrzehnten noch fünf bis sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen, die massive Entwicklungsstörungen aufwiesen, so sind es heute mindestens ein Drittel, Tendenz steigend. Viele der beobachteten Jugendlichen befinden sich, obwohl zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr, kognitiv und sozial zwischen dem 10. und 16. Monat!
In bezwingender Logik und Kausalität und anhand überzeugender Beispiele aus dem Beobachtungsalltag unterscheidet Winterhoff drei Erziehungsgenerationen, nämlich die der hierarchischen Ordnung, die des partnerschaftlichen Miteinanders und die der Symbiose. Gemeint sind die verschiedenen Stile und ihre Art und Weise, wie sie tradierte Werte, Ordnung und Frustrationstoleranz in die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen implantieren. Die Bilanz kann niemandem ersparen, dass sowohl der partnerschaftliche Ansatz, der als Derivat der Emanzipationsbewegung von 1968 angesehen werden muss, die Hirnbildungsschleifen von notwendigen Routineerfahrungen ebenso ignoriert wie dessen Eskalationsstufe, der Symbiose, in der das Rollenverständnis zwischen Eltern und Kindern teilweise auf den Kopf gestellt wird.
Neben der fachlichen Kompetenz und den extrem wichtigen Anregungen, die der Vortrag vermittelt, wird der Zuhörer inspiriert, Rückschlüsse zu ziehen im Hinblick auf viele diskursive Dissonanzen im politischen Prozess unserer Gesellschaft. Auch dort existieren Freiheits-, Verantwortungs- und Ordnungsbegriffe, die getränkt sind von einem hedonistischen Ideal, das sich der Seinsverpflichtung entbindet.
Aber das nur am Rande. Ein spannender Vortrag, reich an Erkenntnissen und alles andere als trockenes Pädagogenfutter.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-06-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.