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Jens Wietschorke - 1920er Jahre. 100 Seiten
Buchinformation

Die 20er Jahre des vergangenen 20. Jahrhunderts waren ein Jahrzehnt voller Möglichkeiten und Chancen. Sowohl die Sterne schienen greifbar, als auch das Paradies auf Erden. Aber dann kam doch alles ganz anders. Der Kulturwissenschafter und Ethnologe Jens Wietschorke zeigt in der Reihe 100 Seiten des Reclam Verlages auf 100 Seiten, dass die Roaring Twenties mehr waren als nur Swing, Coco Chanel und Gatsby-Partys.

Krise und Experiment

Jazz und Swing, Cole Porter und Josephine Baker, Jean Cocteau und Gertrude Stein, Magnus Hirschfeld und Marlene Dietrich, Dada, Expressionismus und "Berlin Alexanderplatz", Lenin, Hindenburg und Mussolini, alles das hatte in diesem einen Jahrzehnt Platz, sogar noch die erste Weltwirtschaftskrise. Das Versuchsfeld der klassischen Moderne zwischen Krise und Experiment par excellence war selbstverständlich die Weimarer Republik, auch Revolverrepublik oder XX genannt. Zwischen Moskau und Chicago konnte sich Europa damals entwickeln, US-amerikanischer Liberalismus oder sowjetischer Kommunismus, alles schien möglich. Denn durch die Massenmedien war eine Massenkultur entstanden und der Aufstand der Massen (Jose Ortega y Gasset) schien nur mehr einen Katzensprung entfernt. Aber die 20er waren auch das Jahrzehnt der Frauen, denn sie tauchten als Sekretärin, Fräulein vom Amt, als Klapper, als Garonne oder als Vamp auf der Bildfläche auf, schreibt Wietschorke. Das erste "it"-Girl war Clara Boss in dem Film "IT" (1927), die Dietrich trug Hosen und Josephin Baker tanzte nackt, nur von Bananen verhüllt auf den Bühnen der Welt. Selbstverständlich gab es auch das organisierte Verbrechen schon. In Berlin war unter dem Namen Geselligkeit-Verein Immertreu e.V. eine berüchtigte Clique tätig, die sich mit insgesamt hundert anderen Cliquen aus über 10.000 Mitgliedern das Großstadtterrain aufgeteilt hatten.

Micky Mouse und Metropolis

Charles Lindbergh überquerte 1927 den Atlantik in 33,5 Stunden und legte damit neu Maßstäbe für den späteren Massentransport in die Neue Welt. Henry Ford hatte dort den Fordismus erfunden, ein kapitalistisches Akkumulationsmodell, das den Produzenten erstmals an den Gewinnen seiner Arbeit beteiligte, ihm aber andererseits die Kontrolle über seine Arbeit gänzlich entzogen hatte. Form folgte Funktion, wie es Marcel Breuer 1925 für das Möbeldesign erstmals formuliert hatte. Aber Seidel's Reklame, aus dem der Autor gerne zitiert, zeigte schon damals alle Produkte, die auch heute noch in der einen oder anderen Form beworben werden. Im selben Jahr gab es in Deutschland immerhin 30000 Tanzkapellen, in GB nur 11000. Und die USA hatte zu der Zeit die Prohibition ausgerufen, die den Alkohol zwar illegal erklärte, seinen Konsum aber nur erhöhte. Micky Mouse und Metropolis waren ebenso inmitten dieses Jahrzehnts entstanden wie der Sport als Massenspektakel. Und noch eine unglaubliche Zahl präsentiert Wietschorke: 6860 Zeitschriften gab es 1927 in Deutschland, Tageszeitungen hatten sogar eine Auflage von 25 Millionen, täglich! Die Berliner Luft ist wie Amphetamin, lauteten damals einige Schlagzeilen. Sie war seit 1920 zwar nur die drittgrößte Stadt der Welt, aber sicherlich die aufregendste. Babylon Berlin wurde zum Inbegriff für "Tempo": nicht nur am Potsdamer Platz, dem damals meistbefahrensten Ort der Verkehrsgeschichte, sondern auch das Einweg-Papiertaschentuch, die Brüder Rosenfelder 1929 erstmals auf den Markt gebracht hatten.

Elektrizität war damals weniger eine Beschreibung von Strom als ein Geisteszustand. Oder wie es der österreichische Zeitgenosse Alfred Polgar damals lapidar äußerte: "Selbst die Müßiggänger gehen nicht schlechthin müßig, sondern sind damit beschäftigt, müßig zu gehen, auch die, die nichts arbeiten, tun dies im Schweiße ihres Angesichts." Im Anhang findet sich eine ausführliche Liste mit Lektüretipps.

Jens Wietschorke
1920er Jahre. 100 Seiten
2023, Broschiert. Format 11,4 x 17 cm, 100 S. 9 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020571-6
Reclam Verlag
10,00 €

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2023-05-31)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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