Rousseau selbst sprach vom argen Weg der Erkenntnis. Und da lag er nicht falsch. Ein gutes Beispiel sind die historischen Studien im Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau. Von Bachofen über Friedrich Engels bis zu Ernest Bornemann waren es Männer, die mit ihren Arbeiten über die Geschlechterrollen und die Familie zur Begründung der Emanzipationsbewegung herhalten mussten. Als die Frauenbewegung in den westlichen Ländern in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts richtig Fahrt aufnahm, war es besonders ein Theorem, mit dem diese Frauenbewegung argumentierte: Dem Zustand des Matriarchats.
Es klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass es ausgerechnet ein Mann, dazu noch ein ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften war, der aus seiner Hobbyleidenschaft, nämlich der Mythendeutung, Erkenntnisse ableiten konnte, die befreiender nicht sein konnten. Uwe Wesel ging in seinem erstmals 1980 erschienenen Buch Der Mythos vom Matriarchat auf das Repressive dieses Mythos ein.
In einer vergleichsweise kurzen Abhandlung von 150 Seiten behandelte er zwei Perspektiven, die historische und die ethnologische. Bei seinen historischen Betrachtungen, bei denen man zudem eine hervorragende Einführung in die verschiedenen Stadien der geschlechtlichen Rollenverteilungen und Begriffe wie Matrilinearität und Matrifokalität erklärt bekommt, geht er auf die Schlüsselsituation ausgiebiger ein. Aeschylos, einer der großen Philosophen des antiken Griechenlands schuf einen Mythos vom Matriarchat, als die Herrschaft der Männer am unerträglichsten war. Die Schauergeschichten über die angebliche Frauenherrschaft sollten das despotische Regime der Männer legitimieren. Dass Großteile der Frauenbewegung gerade diesen Mythos bemühten, um sich selbst positiv zu inszenieren, gehört sicherlich zur Dialektik der Befreiung schlechthin.
Neben der Klärung dieser fatalen Fehlinterpretation des Matriarchats sind es jedoch die ethnologischen Studien, die bis heute von großem Interesse sein können. Wesel bekräftigte in seinem Buch, dass er tatsächlich auf keine Ethnie gestoßen war, in der man von einer tatsächlichen Form der Frauenherrschaft sprechen konnte. Vielmehr existieren auf unserem Globus unterschiedliche Formen der gesellschaftlich wahrgenommenen Geschlechterrollen, die vom Patriarchat reichten - das gab es und gibt es, in seiner uneingeschränkt negativen Bedeutung - bis hin zu unterschiedlichen Erbfolgen oder Besitzregelungen exklusiv über die Frauen. Von Fallbeispiel zu Fallbeispiel kommt man beim Lesen völlig ab von der irrsinnigen Dichotomie der klassischen Emanzipationsdebatte und folgt dem erkenntnisreichen Pfad interessanter Kulturen, die immer mehr den Schluss nahe legen, dass keine Herrschaft eines Geschlechtes, sondern die Autonomie beider Geschlechter gemäß ihrer Kernkompetenzen wohl der Weg sein müsste, dem man folgen sollte.
Uwe Wesel schloss sein Buch mit einer Erzählung über die Irokesen. Bei denen war es nämlich so, dass die Frauen die Sesshaften waren, die die Kinder erzogen, das Land besaßen und den Mais anbauten, während die Männer die meiste Zeit auf Jagd waren. Man sah sich nicht so oft, aber die Autonomie beider war gesichert und von der Herrschaft eines Geschlechts konnte keine Rede sein.
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Autonomie statt Herrschaft! Wie befreiend, und wie wenig beachtet!
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-03-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.