„Mendelssohn auf dem Dach“ war Jirí Weils letzter und erst posthum erschienener Roman. Ein Jahr nach seinem Tod, 1960, erschien das Buch in Prag. Der Schriftsteller selbst wurde leider nur 59 Jahre alt, hinterließ aber ein beachtenswertes Werk auch als Journalist. Er arbeitete die letzten Jahre seines viel zu kurzen Lebens am Jüdischen Museum in Prag, wo sich Klaus Wagenbach und er einmal über Kafka unterhielten und daraus weitere Bücher entstanden.
Die Goldene Stadt in Händen von Räubern
Jirí Weil selbst stand in der kommunistischen Tschechoslowakei allerdings lange Zeit unter Publikationsverbot. Er hatte zwar den Holocaust überlebt, musste sich aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für seine Bücher „Moskau – Die Grenze“ (1935) und „Leben unter dem Stern“ (1949) – bei Wagenbach erschienen – verantworten. Er hatte sich darin gegen die beiden mörderischsten totalitären Diktaturen der Welt gerichtet: Stalinismus und Nationalsozialismus. In „Mendelssohn auf dem Dach“ wiederum geht es vorrangig um die deutsche Besetzung Prags. Nach dem Münchner Abkommen, das mit der Abtrennung des sog. „Sudetenlandes“ die „Resttschechei“ geschaffen hatte, marschierte die Wehrmacht auch in der tschechoslowakischen Hauptstadt ein. Die Stadt, die die Deutschen als ihre Stadt reklamierten, da sie seit Jahrhunderten deutschen Charakter hätte, wurde nicht nur ihrer jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner beraubt, sondern auch sonst den Besetzern gänzlich untertan gemacht.
Kleiner und großer Widerstand im Alltag
Als kulturelle Landnahme kann auch die Anekdote bewertet werden, die schildert, wie SS-Anwärter Julius Schlesinger den Befehl erhält, die Mendelssohn-Bartholdy- Statue auf dem Dach des Rudolfinum zu stürzen. Das nunmehrige „Haus der deutschen Kunst“ sollte der Statue des jüdischen Komponisten (der im übrigen getauft war) entledigt werden. Auf Befehl von Heydrich (Reichsprotektor von Böhmen und Mähren) persönlich. Es gibt nur ein Problem: die Statuen am Dach des prächtigen Prager Konzertsaales sind nicht beschriftet. Trotz des furchtbaren Hintergrundes vor dem der Roman spielt, vermag es der Autor Jirí Weil der Situation etwas komisches abzugewinnen und zeigt, wie auch unter den schwierigsten Bedingungen Menschen immer wieder Widerstand geleistet haben. Denn es sind nicht die großen Gesten, die das Lügengebäude des Nationalsozialismus zum Einsturz brachten, sondern die kleinen Details, die alle ebenso unter Lebensgefahr vollbracht wurden: „Das kleine Land (Tschechien) war verkauft worden, dann wurde es von Mördern und Räubern besetzt, gefesselt, geprügelt. Doch vermochten sie es nicht zu brechen, solange Menschen da waren, die es verteidigten. (...) Kämpfen nur um am Leben zu bleiben, das konnte niemals gut ausgehen. Man musste sich fest und hart entscheiden, sich hinwegsetzen über Bequemlichkeit, Schicksalsergebenheit und Angst, musste, wenn nötig, sein Leben opfern für die Sache, die siegen und den anderen Menschen Frieden und die Befreiung bringen wird.“
Operation Anthropoid und Stalingrad als Wende
Jirí Weil hat die Geschichte jener geschrieben, die trotz allem durchgehalten haben und sogar anderen geholfen haben. Ihre Kinder versteckt haben, ihnen Verpflegung gebracht oder am Galgen „Ihr werdet den Krieg verlieren!“ gerufen haben. Erschütternd sind nicht nur Weils Beschreibungen des Hungers und der Transporte, sondern auch wie jeder Einzelne wider Willen in die Diktatur miteinbezogen wurde. Befehle wurden oft aus genau diesem Grund delegiert und nach unten verteilt, um jeden mitschuldig am Völkermord zu machen. Wer nicht mitmachte wurde selbst umgebracht. Ein Kapitel ist auch dem Attentat auf den Reichsprotektor, Operation Anthropoid, gewidmet, das unter haarsträubenden Umständen doch noch zustande kam. Unter dem Begriff Anthropoidea werden höhere Primatengruppen bezeichnet und so hatte auch hier der Spott die selbsternannte Herrenrasse treffend ins Herz getroffen. Allerdings waren die Folgen dieser gerne als Heldentat charakterisierten Aktion weniger erfreulich. Deswegen beschreibt Jirí Weil hauptsächlich jene, die das Leben ihrer MitbürgerInnen retteten oder am Schafott „Stalingrad!“ riefen. Denn das war das Synonym der Wende.
Jirí Weil
Mendelssohn auf dem Dach
Roman
Aus dem Tschechischen von Eckhard Thiele
2019, 288 Seiten. Elegante Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3309-0
Wagbenbach Veralg
22,– €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-02-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.