Dostojewski behauptete, der Kummer schaffe die Poesie. Kunst ist die heilige Frucht des Leids. Dieses Leid zu ertragen, ist die Pflicht des Künstlers. Der Literaturbetrieb konfiguriert sich neu. Die Haltung von Literaturbürokraten vereint all jene Eigenschaften, die den Kulturbetrieb zur Folterkammer machen: Gefühlskälte, aufgesetzte Bedeutung, routiniertes Handwerk, gnadenlose Selbstbezüglichkeit. Es wird nichts erzählt, was man nicht schon lange und besser weiß und kennt. Es wird zu viel Vermeidungsfiktion geschrieben. Über die schmerzlichen Wunder unserer Existenz erfährt man bei Holger Benkel, Peter Meilchen, oder A.J. Weigoni ungleich mehr als beim Eintauchen in die mürbe Welt eines Wilhelm Genazino, Botho Strauss oder Martin Walser, von all den jungen bis mittelalten Autoren und Autorinnen ganz zu schweigen, deren Helden sämtlich Jonas oder Anna heißen und in Prenzlberger Cafés ihre Zeit absitzen. Das dieser Szene über den Berghain hinaus eine Bedeutung zugeschrieben wird, ist ein tragischer Fall von germanistischer Inkontinenz. Man muß abstrakt denken, um in die Seele hineinhorchen zu können.
Als Poet reflektiert A.J. Weigoni die Begrenztheit und Möglichkeiten des Individuums zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dieser VerDichter versteht sich selbst als Instrument, als Medium, das widersprüchliche Stimmen sammelt und der Krise der Zivilisation Ausdruck verleiht. Lyrisch kreist sein Schreiben um den Schöpfungsvorgang einer rein immanenten Welt und zuweilen hat man den Eindruck als handele es ich bei diesen VerDichtungen um Mikro-Essays. Der neue Gedichtband von Weigoni ist ein Exerzitium der Atemgebung. Die Sprache der Musik wird eins mit der Musik seiner Sprache, in einem Nuancenreichtum und einer gesamtkunstwerklichen Breite, die keine Grenzen zu kennen scheint. Hier ein Flüstern, ein kaum vernehmbarer Seelenhauch, den Weigoni gleich noch einmal expressiv zurücknimmt. Dort wuchtige Ausbrüche, die sich steigern, bis in höchste Erregung und letzter Verzweiflung. Es geht um ein Freiwerden der Dinge durch die Worte und zugleich von den Worten.
Diese Poe¬sie ist kein Rest¬be¬stand aus im säkularen Verfall abge¬legten Sprachelementen, die Tendenz der Poeti¬sierung geht auf die Bildung neuer Deutigkeiten. Es geht um die Rückverwandlung des Wirklichen in den Horizont seiner Möglich¬keiten. Sprache gibt den Einsatz zu inten¬tionalen Akten; aber in der poeti¬schen Sprache liegen solche Ansätze gleich¬sam gebündelt und können daher nicht bestimmte Rich¬tungen des Nach¬vollzugs initi¬ieren, sondern schaffen nur eine bestimmte Sensi¬bilität. Wo das Wort als Anweisung auf eine An¬schau¬ung versagt, wo es auf mehr als einen Weg der Aus¬bildung einer zunächst vage an¬set¬zenden Vo¬rstellung schickt, wo es auf viele Wege weist, die eben deshalb doch nicht reell gegan¬gen werden können, lädt es sich auf mit der Ahnung dessen, was nicht voll¬streckt und zur Erfüllung gebracht werden kann, was aber gerade als solches, als Horizont unerfüllter Inten¬tionen, das erfah¬rende Sub¬jekt sich selbst gegenwärtig macht und es von der all¬täglichen Sprachsitua¬tion der objek¬tivierten und zu objekti¬vie¬renden Welt weg¬wendet auf seine eigene Omni¬potenz der Imagination.
In diesem Band verdichtet sich die Essenz eines turbulenten Denkens. Weigonis Poesie leidet nicht unter dieser Analyseschärfe, im Gegenteil. Dies hat der theoretisch bewandte Lyriker auch mit einem Essay untermauert. Wir sind auf dem nichthermeneutischen Feld; dort, wo Friedrich Kittler von sensibilité intellectuelle zu sprechen begann. Weigonis Gedichte betreiben Sprech- und Sprachspiele, die aus den Klangähnlichkeiten und Bedeutungsunterschieden Funken schlagen, Selbst- und Mitlaute fließen dabei in stetem Wort- und Klangwandel mit. Er dringt vor zum innersten Kern allen Sprachempfindens. Diese Gedichte imaginieren diesen Moment der innehaltenden Zeit als eine Erlösung, die nur um den Preis eines erfüllten, eines durchgestandenen Lebens zu haben ist.
»Schmauchspuren«, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
[*] Diese Rezension schrieb: Matthias Hagedorn (2014-12-28)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.