"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören" (Christa Wolf)
Mit bewussten Halluzinationen beschreibt A.J. Weigoni den real existierenden Surrealismus. Es bedeutet nichts Gutes für die realsozialistische Gesellschaft, wenn sie nur noch mit den Parametern der Literatur zu messen ist. Im Gegenteil. Es ist unheimlich, wenn die antiken Topoi und kulturpessimistischen Geschichten - vor den Toren das drohende Verhängnis, während intra muros feiste ZK-Mitglieder weiterhin der Wollust und der Ämter-Schacherei frönen - plötzlich als aktuelle Kommentare fürs alt-neue Rom und Athen taugen. Wenn jedoch der Populisten Triumph und Scheitern samt den archaischen Abgängen ihrer Kreaturen nichts hergeben für das nuancierte Instrumentarium zeitgenössischer Politik- und Gesellschaftswissenschaft, wenn also die Wiederkehr des bereits überwunden Geglaubten alle modernen Ansätze als obsolet erscheinen läßt. Wenn Politbüromitglieder sich der hehren Vokabeln bemächtigen, um mit ihnen Notzucht zu treiben, kann sich die Literatur nicht mit lakonischer Distanz begnügen, sondern muß ein ganzes Arsenal sinnlich erfahrbarer Geschichten öffnen, auf daß die blecherne Herrscher-Rhetorik nicht das letzte Wort hat.
Die Nachwende ist noch so gedankenwarm, daß man auf literaturordnende Maßnahmen und summierende Bilanzen verzichten kann. Dieser Romancier löst das Versprechen auf Gegenwartserkenntnis ein. Weigoni schärft das ästhetisches Profil wie zugleich das zeitdiagnostische Potenzial und ist dem Bewusstseinsstand der Gegenwart gewachsen, ihm gelingt mit dieser Prosa ein lebensnahes Verfahren, das zweifellos zu den begrüßenswerteren Einflüssen seit dem New Journalism und der Popliteratur gehört. Neutrales Berichten ist eine Fiktion. Beobachter haben Meinungen, die selbstverständlich das beeinflussen, was sie wie beobachten. Reportagen machen sich diese Subjektivität zunutze, der Leser soll durch die Augen des Reporters auf das Geschehen blicken. Zum Thema aber machen sich Reportagen diese Einflüsse meist nicht: Der Berichtende bleibt entrückt und im Dunkel, das Ich ist verpönt. Weigonis Schreiben ist immer auch ein Sichreiben. Diese Literatur ist der Geschichtserkenntnis dienlich und entfernt sich aus dem sanitären Kordon des Epochalen und Fortschrittlichen mit einer überfälligen Weltzuwendung. In seinem Roman »Abgeschlossenes Sammelgebiet« verpflichtet sich Weigoni der aufklärerischen bildungsbürgerlichen Tradition und ist gleichzeitig offen für das Neue. Er lotet die Untiefen zwischen Rollenspiel und Bekenntniszwang aus, seine Kritik stellt sich als intellektuelles Denkmodell dar und das mit dem Bewusstsein daß der ästhetische Bewertungsmaßstab mittlerweile in Misskredit geraten ist. Der Begriff Kritik stammt vom altgriechischen Wort „kritike“ ab und bedeutet „Beurteilungskunst“, die über das Aufzeigen von Schwächen und Fehlern weit hinausweist. Die Analyse der so genannten Wiedervereinigung schließt immer auch das Erkenntnisinteresse des Prüfers mit ein, das Bedingungen, Voraussetzungen und Grenzen festlegt. Weigoni verfügt über Takt- und Temposicherheit und einen Tonfall aus Schnoddrigkeit und Ironie, mit dem er, buchstäblich en passant, ein anschauliches Bild des Prenzlauer Berges und der Düsseldorfer Kunstakademie-Szene liefert. Er beschreibt eine Zeit in der Bildung in der Gesellschaft immer mehr schwindet und hedonistische Geschmacksurteile das differenzierte Bewerten ersetzen. Sein lakonisches Resüme 25 Jahre nach dem Mauerfall: Die Zeit an sich interessiert sich nicht für einen. Doch der Leser interessiert sich für Geschichten.
»Abgeschlossenes Sammelgebiet«, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 - Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover