Sollte das Internet ein getreues Abbild einer Geistesverfassung sein, so fehlt den Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem eins: Ein Bewußtsein für die Realität. In »Cyberspasz, a real virtuality« schöpft A.J. Weigoni alle Strategien des Erzählens aus, er untersucht wo die Grenzen von Fiktion liegen und wann die Wirklichkeit verschwimmt. Er begegnet der Immaterialität zirkulierender Objekte und Zeichen mit einer ganz eigenen Sprache der Abstraktion, einer Fiktion, die nicht nur die Sprache, sondern auch die Erzählung sowie die Figuren und ihre Beziehungen untereinander betrifft.
Informationelle Selbstbestimmung
Alles was wir sind, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben. Eigentlich ist virtuelle Realität nichts anderes als der Versuch, diese alte Weisheit in Praxis umzusetzen, statt sie an die Wand zu pinnen. Die Literatur ist körperlos und dieser Schriftsteller, tut sein Möglichstes, um diesen Prozess der Ablösung von der Materie zu befördern. Diese Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee. Auch wenn den Lesern die Inhalte vielleicht nicht immer gefallen, weil sie nicht gefällig sind, sondern die Realität hinter der Maske von Schein zeigen, das Scheinbare zum offensichtlichen Phantom degradieren, schätze ich Weigonis literarische Qualität. Ein Wort zu einem anderen zu fügen und dabei beide gegenseitig sich hinterfragen zu lassen, stetig zu hinterfragen, das vermögen nicht viele. Auch wenn es manchmal anstrengend ist, diese Prosa zu lesen. Die Ästhetik der Kunst besteht nur vordergründig in Vordergründigem, erst wer zum Hintergrund gelangt und die Beziehungen der verschiedenen Schichten und Verwerfungen zu erkennen vermag, wird zur wahren Schönheit gelangen.
"Love the machine, hate the factory"
Weigonis Interesse gilt der Erforschung des Unbewußten der Gegenwart, den unausgesprochenen Ängste und heimlichen Begierden; und der Rolle, die deren Reflexion und Analyse in diesem Unbewussten spielt. So lassen sich seine Novellen auf einer Achse zwischen den Polen Gewalt und Erkenntnis verorten. Sein zentrales Thema ist die Vertechnisierung der Sinne und die Versinnlichung der Technik. Dabei betreibt er eine Aufklärung gegen die Technikgläubigkeit. Eines der wesentlichen Merkmale seiner Prosa ist ein dekonstruktivistischer Ansatz, der im Zerlegen und neuen Zusammensetzen kultureller Erscheinungen besteht. Für ihn ist jedes Buch ein Ort, den er mit seiner Sprache durchwandert. Das Lesen seiner Prosa ist weniger ein Akt des Verstehens und Dechiffrierens als so etwas wie Versenkung und Kontemplation. Diese Prosa ist geprägt von einem erkennbaren Rhythmus und einem hohen Grad an Sprachreflexion. Im beziehungsreichen Metaphernspiel nährt Weigoni zwar den Anschein, die zwischenmenschliche Verständigung mithilfe der Sprache hätte ihren Sinn verloren, zugleich aber reduziert er den allmächtigen Wörterschwall der herrschenden Poesie auf ein Minimum. Er glaubt bei allem schwarzen Pessimismus an die Unverfügbarkeit der Seele, die kein Zwangseingriff zum Schweigen bringen kann und nähert sich den Trivialmythen aus der Perspektive des Connaisseurs, beutet den popkulturellen Rohstoff aus, beschwört den anarchistischen Geist des Rock’n’Roll und verhandelt seine Lebensthemen: Anderssein und Ausbruch, Repression und Libertinage, Rausch und Sexualität.
Sinn und Sinnlichkeit ungetrennt
In Zeiten des kulturellen Allesfressertums und dem Verschwimmen der Grenzen von High und Low Culture läßt sich über ästhetische Präferenzen kein Dinstinktionsgewinn mehr einfahren. Weigoni bringt die spielerische Dramaturgie eines postmodernen Patchwork–Romans und die psychologische Tiefe eines realistischen Gesellschafts–Epos, die Entwicklung der Musikindustrie von der Hippie–Kultur der sechziger Jahre bis in eine von Gadget–versessenen Kleinkindern regierte Zukunft sowie zig verschiedene Charaktere, Generationen und Genres in einem überaus originellen und temporeich erzählten Buch zusammen. »Cyberspasz, a real virtuality« ist eine Comédie humaine der Gegenwart. Die Figuren von Weigoni stecken in metaphysischen Schicksalshorizonten. In der Novelle »Auf ewig Dein« hängen sie gleichsam an Fäden wie Kleistsche Marionetten, versuchen aber trotzdem, ihren eigenen Willen zu behaupten. Und letztlich auch durchzusetzen. Die Simulation von Lebensprozessen, die technische Reproduktion natürlicher Vorgänge, treibt den menschlichen Geist um. Inzwischen wendet sich dieser Geist sich selbst zu – oder vielmehr dem Gehirn, dessen Tätigkeit mittels Computertechnologie rekonstruiert werden soll.
Infiltration sozialer Netzwerke
Wer noch Illusionen hat, kann sie bei der Lektüre von »Cyberspasz, a real virtuality« verlieren. Als digitaler Ethnologe erkundet A.J. Weigoni die Virtualrealität. Bei näherem Hinschauen wird deutlich, wie bewußt dieser Romancier zeitgemäße Parallelwelten beschreibt. Auf rund 320 Seiten betreibt er Zeitdiagnostik und Kulturkritik, ernst, witzig und polemisch zugleich. Da ist die Rede von Recycling, Remake und von virtueller Souvenirindustrie. Die Novellen, durch die messerscharfe kalte Feuerwinde wehen, führen ein Bestiarium von Gestalten vor, die unter enormem Beschleunigungsdruck agieren und deren Beziehungen oftmals Beziehungsarmut zeigen.
Die Figuren in »Cyberspasz, a real virtuality« sind Präsensnomaden, sie leben im Glauben an eine ewige Gegenwart, oder gar eine ‚ewige Jugend’, die ihnen umso lebbarer erscheint, je ahistorischer sie denken und handeln. Solche modernen Nomaden, Marionetten ihres Egoismus, folgen als Individuen wie Herdentiere den Weideplätzen ihrer momentanen Bedürfnisse und Gelüste. Die meisten Figuren sind miteinander verbunden, indem sie wiederholt auftreten und so Handlungsstränge verknüpfen oder bereits angedeutete aus den Erzählungen »Zombies« variieren. Fast kann man bei beiden Büchern von einem ‚Konzeptalbum’ sprechen. Hier wie dort brilliert dieser Romancier durch Scharfsinn und Scharfzüngigkeit.
»Zombies«, Erzählungen; »Cyberspasz«, Novellen - von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
[*] Diese Rezension schrieb: Matthias Hagedorn (2012-09-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.