Der Umgang mit der Antike und ihren Hinterlassenschaften war durch die Jahrhunderte hindurch nicht immer gleich, denn vorangegangene Generationen gingen alles andere als zimperlich oder behutsam mit den „alten Steinen“ um. Das Kolosseum, das „Amphitheater Roms“ war besonders vielen Umdeutungen und Umbauten ausgesetzt, wie Wegerhoff in seiner Monographie über das Bauwerk der Antike schlechthin schreibt. Dass das Bauwerk überhaupt noch stehen würde, sei dabei aber nicht nur „römischer Bautechnik und Materialschwere“ zu verdanken, sondern auch „den neuen Bedeutungen, die der Steinmasse über die Jahrhunderte hinweg eingehaucht wurden“. Dass ausgerechnet die christlichen Päpste des Mittelalters bei Gefahr in das heidnische Kolosseum zur Familie Frangipane flüchteten, mag eine Ironie der Geschichte sein, die Wegerhoff neben vielen anderen erzählt, aber selbstverständlich kann es auch als Triumph des Glaubens über die vermeintlichen Heiden bewertet werden.
Wer ausgerechnet im Kolosseum christliche Symboliken entdeckt hat, wird sich wundern, warum gerade hier, wurden die Anhänger der kleinen christlichen Sekte doch vorzugsweise im Kolosseum den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Tatsächlich stammen die christlichen Insignien von einem Bewohner (!) des Kolosseums, dem Papst, aber auch die Familie Frangipane hat dort ihre Spuren hinterlassen. Die drei Deutungen des Kolosseums, die Wegerhoff anbietet, - magisches Machtzentrum im Mittelalter, verehrter Martyriumsort der Gegenreformation und überwachsene Ruinenlandschaft, Arkadien der Grand Tour – bilden den Rahmen seiner ausführlichen Berichterstattung über eines der größten Gebäude der Menschheit.
Mit dem wohlinszenierten nationalstaatlichen Durchbruch der Aurelianischen Stadtmauern am 20.9.1870 befreite sich das nunmehr auch um Rom erweiterte vereinte Italien von der Flora des Kolosseums als bloße Idealantike. Das antike Monument wurde vollständig „entkleidet“ und mit einer kompletten Räumung sollte sein „Ursprungszustand“ wiederhergestellt werden. Zeitgenossen bezeichneten es daraufhin allerdings als „nacktes Skelett, anwidernd und ekelhaft“, und selbst der Archäologe Rodolfo Lanciani erkannte das Kolosseum nach der Säuberung nicht wider. Nach den individuell ausgerichteten Besuchen der Grand Tour Ära, sollten im neuen Nationalstaat ab 1870 massentouristische Ströme dem profanisierten Bau seine letzte Bedeutung rauben. Heute führt eine U-Bahn Station direkt vor den Kolossalbau und alljährlich findet nur mehr eine Messe am ehemaligen „Matryriumsort“ statt: am Karfreitag.
Erik Wegerhoff
Das Kolloseum.
Bewundert, bewohnt, ramponiert.
Verlag Klaus Wagenbach
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-07-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.