In Cannes hat Apichatpong Weerasethakul für "Tropical Malady" 2004 den Großen Preis der Jury erhalten. Es ist zweifellos ein lohnender Film, fürs Auge, fürs Gemüt und für den Geist. Doch ob ihn jeder, der ihn rühmt, auch vollkommen verstanden hat – ich bezweifle es. Durch den Film geht ziemlich exakt in der Mitte ein Riss, der Film blendet ab, die Handlung setzt aus, um auf eine diametral entgegengesetzte Weise neu anzufangen. Stellen Sie sich vor, am Deutschen Schauspielhaus spielen sie erst zwei Akte Botho Strauß, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, kommt ein barockes Mysterienspiel. Der Vergleich ist unzulänglich, gewiss … Jede Übertragung auf unsere Verhältnisse müsste es sein.
Am Anfang haben Soldaten einen unbekannten Toten in einem Feld entdeckt. Sie bleiben gelassen, schaffen ihn fröhlich zu einem bäuerlichen Anwesen, kehren dort ein. Soldat Keng (Banlop Lomnoi) interessiert sich für Tong, den Sohn des Hauses (Sakda Kaewbuadee). Tong ist Arbeiter in einer Eisfabrik und halber Analphabet. Wir erleben die beiden in einer Reihe kleiner sympathischer Genreszenen auf dem Land oder in Bangkok, mal beim Lkw-Fahrtraining, mal in der Tierklinik, mal in einem Höhlentempel und auch im Kino, im Einkaufszentrum oder in einer Karaoke-Bar. Es ist das Thailand von heute, westlich nicht überformt – nur überhaucht. Dafür sehr asiatisch die Darstellung der erotischen Anziehungskräfte, nie direkt, immer zart, delikat, anspielungsreich. Wenn Keng sich zu Beginn verliebt, sehen wir nur ihn, wie er den für uns unsichtbaren Tong minutenlang betrachtet und dabei zunehmend ironischer lächelt. Ähnlich distanziert-amüsiert reagieren später Tong und eine unbekannte junge Frau in einem Bus in der Hauptstadt aufeinander. Allein schon diese beiden Szenen lohnen das Anschauen des Films.
Eines Morgens ist Tong verschwunden. Und im Dorf heißt es, eine Tigerbestie reiße ihnen die Rinder.
Nach dem Abblenden beginnt eine teilweise im Mythologischen angesiedelte Parallelhandlung. Soldat Keng zieht mit Gewehr und Funkgerät auf die Tigerjagd in den Urwald. Der Urwald ist höchst real, mit Baumriesen im Dschungel, ekligen Insekten, scharfen Hell-Dunkel-Kontrasten. Doch der Tiger ist der Geist eines getöteten mächtigen Schamanen, der auch Menschengestalt annehmen kann. Keng verfolgt ihn bei Tag und fürchtet ihn bei Nacht. Am hellen Tag trifft er auf einen nackten Wilden, Inkarnation des Schamanengeistes (wiederum Sakda Kaewbuadee). Sie kämpfen auf Leben und Tod miteinander …
Am Ende lassen wir Keng im nächtlichen Urwald allein zurück. Er hat sich gefunden oder verloren - und die Untertitel des Erzählertextes machen mich Westler etwas ratlos. Die Umgrenzungen der Gestalten sollen sich aufgelöst, die Figuren sich wechselseitig durchdrungen haben. Mir scheint, unsere Terminologie kann dem alten südostasiatischen Mythos nicht wirklich gerecht werden. Der Film bleibt so unaufgelöst suggestiv über seinen Schluss hinaus - ein sehr reizvolles cineastisches Abenteuer mit ungewissem Ausgang für jeden Zuschauer.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2011-10-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.