Der alte Thomas Mann hat den 1948 zuerst erschienenen Roman noch gelesen. Seine Tagebuchnotizen vom Herbst 1950 verraten großen Respekt und ein fasziniertes Befremden. Unter dem Eindruck der Lektüre beginnt er, am „Felix Krull“ weiterzuschreiben, nach fast vierzig Jahren Pause. Gore Vidal, fünfzig Jahre jünger als Thomas Mann, hat seinerseits an Hans Castorp aus dem „Zauberberg“ gedacht, als er seinen Jim Willard schuf. Doch dessen Welt ist kein Sanatorium, sondern das Amerika der vierziger Jahre in seiner ganzen Breite.
Es war sein zweiter Roman, der Autor bei der Veröffentlichung erst dreiundzwanzig. Das Echo war sehr bald da, folgenreich, verheerend. Gore Vidal hat sich mit dem Buch die geplante politische Karriere schon vor ihrem Beginn selbst zerstört, und er wurde dann als Autor lange Jahre von den wichtigsten Meinungsmachern boykottiert, darunter der New York Times. Er wich ins Filmgeschäft aus, schrieb Drehbücher („Ben Hur“), wurde Berater John F. Kennedys, mit dessen Clan er versippt ist. Nur allmählich setzte er sich mit seinen vielen weiteren Büchern durch und wurde doch noch einer der großen amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
The City and the Pillar erschien kurz vor dem Kinsey-Report, wie eine vorwegnehmende literarische Umsetzung der Ergebnisse des Sexualwissenschaftlers. Was Gore Vidal über Homosexualität in den USA schrieb, war für die Öffentlichkeit der kleine vor dem großen Schock. Unverzeihlich war in der McCarthy-Ära bereits, wie der Autor das Thema anging. Jim Willard ist ein junger amerikanischer Jedermann aus der Mittelschicht, gut aussehend, sportlich, intelligent, wendig. Baseball und Tennis bringen ihn Bob näher, eine scheinbar normale Freundschaft an der High School. Erst als Bob die Schule verlässt und sie ein letztes Wochenende miteinander verbringen, erhält Jim, was er sich seit Jahren insgeheim von dem anderen erhofft hat, eine emotionale wie sexuelle Begegnung von großer Intensität.
Bob geht zur See und schreibt Jim bald keine Briefe mehr, er wird unerreichbar. Dennoch bleibt er für Jim der Leitstern und das kurze einmalige Geschehen das zentrale Ereignis in seinem jungen Leben. Jim hat ein unterkühltes Verhältnis zu Eltern und Geschwistern, in Bob sieht er den Zwillingsbruder, den er nur finden muss, um, mit ihm wieder vereint, auf Dauer glücklich zu werden. Also geht auch er im folgenden Jahr zur See, auf der Suche nach Bob …
Der weitere Verlauf ist ebenso absehbar wie dennoch dramatisch fesselnd. Zwangsläufig taucht Jim immer tiefer in die zeitgenössische schwule Welt ein und bleibt zugleich in ihr ein Fremder. Er hält lange die Fiktion aufrecht, anders zu sein als seine Partner, eben ein Sonderfall. Nach seinem Verständnis ist er nicht homo-, sondern bobsexuell, und er macht sich sogar vor, daneben eines Tages eine Frau heiraten zu können, wenn nur die richtige käme. Tatsächlich erweist er sich als unfähig, auch nur mit einer zu schlafen.
So beschaffen ist Jim für seinen Autor der ideale Projektionsapparat, um eine Vielzahl von die Gesellschaft prägenden Typen vorzuführen. Jim geht nach Hollywood und wird erst der heimliche Geliebte eines berühmten Filmstars, dann der eines erfolglosen Schriftstellers und später der sexuell versagende Lover einer Ex-Freundin des Literaten. Alle Beziehungen scheitern nach kurzem. Jim, Bob immer im Hinterkopf, wird promisk. Nach einer Episode bei der Army kommt er nach New York, macht eine Menge Geld als Tennislehrer und pendelt zwischen der Welt der Upper class-Homos, die ihn abstößt, und den Bars für raschen Kontakt und oft nur anonymen Sex.
Jim ist fünfundzwanzig, als er nach Jahren erstmals wieder heim nach Virginia fährt. Der Vater inzwischen tot, die Mutter alt und weise geworden, die Schwester unter der Haube, der jüngere Bruder Soldat – und Bob ist wieder da und verheiratet und ein Kind ist auch schon gekommen. Jim will sich weiter täuschen, er lädt Bob nach New York ein. Es wird ein Fiasko: Bob weist seine erneute Annäherung brüsk zurück, will ihn aus dem Hotelzimmer werfen. Im sich anschließenden Ringkampf ist ihm Jim überlegen und vergewaltigt ihn und damit zugleich die Erinnerung an die Vergangenheit. Nachher geht er sich betrinken. (In der ersten Fassung von 1948 hat Jim Bob noch getötet. Der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Geschlossener Kreis“ liegt indessen das mildere und wahrscheinlichere Ende der Neubearbeitung von 1965 zugrunde.)
Im Ganzen ist The City and the Pillar ein rasant geschriebener und spannend zu lesender Desillusionsroman von ebenso großen psychologischen wie satirischen Qualitäten. Ein Buch wie eine weithin sichtbare Landmarke, seine Kenntnis unverzichtbar im Zusammenhang mit moderner amerikanischer Literatur. Nur in Deutschland ist Gore Vidal noch immer ein weithin unbekannter Gigant.
Die Widmung des Romans lautet: „J. T. zum Gedächtnis.“ Das ist Gore Vidals Jugendliebe Jimmy Trimble, im 2. Weltkrieg gefallen, begraben auf dem Friedhof Rock Creek Park, Washington D.C. Neben dieser Grabstelle und ebenso benachbart der von Gore Vidals jahrzehntelangem Lebensgefährten Howard Austen hat sich der Autor die eigene letzte Ruhestätte reservieren lassen. Er sagte einmal, ein Motiv für The City and the Pillar sei der Versuch gewesen, sich vorzustellen, wie die Beziehung zu Trimble sich weiter entwickelt haben könnte, wäre dieser lebend aus dem Krieg heimgekommen. Hat der Autor sich also ein Stück weit mit seiner Figur Jim Willard identifiziert? Dann liegt darin eine tiefe, vielleicht unwillkürliche Ironie. Jim Willard, sexuell nur von Männern angezogen und sich die Möglichkeit eines bisexuellen Lebens selbst nur vortäuschend, ist ein Kronzeuge gegen Gore Vidals eigene Theorie von der fließenden sexuellen Identität. („There are no homosexual people, only homosexual acts.“) Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.
[*] Diese Rezension schrieb: ArnoAbendschoen (2010-05-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.