Im Frühjahr 2016 hatte ein in den USA in Millionenauflage erschienener autobiographischer Roman auch in Deutschland einigen Erfolg „Unorthodox“ von Deborah Feldman war eine meisterhafte Schilderung des Emanzipationsprozesses einer jungen Frau aus tiefer Einsamkeit und Angst hin zu einem einzigen Punkt: dem eigenen Denken und Fühlen. Noch nie hatte eine Autorin ihre Befreiung aus den Fesseln religiöser Extremisten so lebensnah, so ehrlich, so analytisch klug und dabei literarisch so anspruchsvoll erzählt.
Nun legt der Amerikaner Shawn Vestal einen nicht minder autobiographisch geprägten Roman vor, dessen Titelheldin eine junge Frau ist. Ich vermute, dass es der zweite, männliche Protagonist Jason ist, der die Züge des Autors trägt. Der Roman spielt in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Mormonengemeinden von Gooding, Idaho und Short Creek in Arizona.
Der Roman erzählt die Geschichte der fünfzehnjährigen Loretta. Sie wächst auf in Short Creek in einer sehr strengen und fundamentalistischen Mormonengemeinde, in der Polygamisten die „wahre Lehre“ hochhalten. Doch sie hat anderes im Sinn. Sobald es dunkel ist, schleicht sie aus dem Haus und trifft sich mit ihrem Freund Bradshaw. Doch das geht nicht lange gut. Sie wird erwischt, und zur Disziplinierung mit dem Polygamisten Dean verheiratet, dessen „Schwesterfrau“ sie wird.
Die Geschichte von Loretta und Deans Familie ist der eine Strang der Erzählung. Im zweiten wird berichtet von Jason, der mit seiner Familie und einem eher lockeren Großvater in Gooding, Idaho in einer mormonischen Gemeinde lebt, die nicht polygamistisch ist, aber nicht weniger fundamentalistisch-streng.
Er ist ein großer Fan des draufgängerischen Evel Knievel, der mit seinen waghalsigen Stunts auch hierzulande damals eine gewisse Berühmtheit erlangte. Diesem Evel Knievel, den Jason zweimal in seinem Leben persönlich kennenlernt, gibt der Autor mehrmals ein Forum, wo er in der Wirform sich an „eine begeisterte Nation“ wendet.
Ein Geschehen am 26.Juli 1953 spielt in der Erinnerung der Mormonen immer wieder eine besondere Rolle, als sogenannte Bundesagenten in Short Creek einfielen, viele Männer verhafteten und die Kinder in Pflegefamilien unterbrachten. Permanent leben diese Menschen in der Vorstellung der bald bevorstehenden Wiederkunft des Herrn, der sie, die Auserwählten, emporheben wird in den Himmel.
Als Onkel Dean nach dem Tod des Großvaters mit seiner ganzen Familie und seiner „Schwesterfrau“ Loretta nach Gooding zieht, weil er sich um sein Erbe kümmern will und im Haus des Großvaters sich breit macht, planen Loretta, Jason und Bradshaw, der um Loretta nah zu sein, schon in Short Creek in Deans Agrarmittelfirma angeheuert hat, abzuhauen. Sie wollen nur weg aus einer Situation, wie sie Shawn Vestal wohl selbst erlebt hat.
Ihre Flucht schildert er in einer tragikomischen Roadstory. Doch es wird deutlich, dass die Flucht aus einer solchen Kindheit, geprägt von einem einengenden und extrem lebensfeindlichen Glauben nicht so leicht ist. Es liegt nahe, dass diese Prägung ein Leben lang anhalten wird, und die Aufgabe, sich davon zu lösen und zu befreien, immer nur kurzfristig zu lösen ist.
Indem Shawn Vestal seinen Debütroman geschrieben hat, hat er dies für sich selbst versucht. Es ist ihm ein Buch gelungen, das unaufgeregt und sprachlich ansprechend ist, das dem Leser viel vermittelt von wohl auch noch heute aktuellen Zuständen in manchen Mormonengemeinden. Ein Buch, das in der Figur von Loretta zeigt, wie sich junge Menschen davon befreien – „aber nur bis jetzt“. (Das sind die letzten ernüchternden Worte des Romans.)
Shawn Vestal, Loretta, Kein & Aber 2017, ISBN 978-3-0369-5745-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2017-01-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.