Verblüffend. Klug. Außergewöhnlich. Der inzwischen (2020) auch als Taschenbuch erschienene Roman des deutschen Erfolgsschauspielers und Musikers Ulrich Tukur spielt 2033 und 1943 und verwebt geschickt Vergangenheit und zukünftige Gegenwart zu einem Verwirrspiel der besonderen Art. Nicht nur sprachlich, sondern auch von der Konstruktion des Romans her ein wahres Meisterwerk, das einen sprachlos zurücklässt.
Traum oder Realität?
Schon das dem Roman vorangestellte Zitat stimmt treffend auf die vorliegende Handlung ein: „(…) Der Traum ist kein abseitiger Spuk, sondern die eigentliche Wirklichkeit. Still umfängt er unser Leben, und wir sinken ganz und gar in ihn zurück, wenn wir sterben. (…)“ Auch in seinem zweiten Roman (nach: „Die Seerose im Speisesaal“, ebenfalls bei Fischer) schafft es Ulrich Tukur eine neue Welt zu erschaffen in die er den Leser mühelos hineinführt wie in ein Labyrinth, aber alleine wieder hinausgehenlässt. Der Minotaurus, den es in „Der Ursprung der Welt“ zu erlegen gilt ist ein wahres Monster und wäre er nicht Fiktion könnte er nur von der Realität übertroffen werden. Denn tatsächlich hat es diesen Menschen, Prosper Genoux (so der Name im Roman), tatsächlich gegeben. Er beutete während des Zweiten Weltkrieges Flüchtlinge aus und bereicherte sich, indem er ihnen einen sicheren Ausweg versprach. Anschließend erschlug er sie bei Gelegenheit, um sie in seinem Keller zu vergraben oder zu verbrennen. Die Realität ist eben oft viel schlimmer als der größte Albtraum, den sich ein Schriftsteller ausdenken kann und Ulrich Tukur hat die Geschichte dieses Monsters stilsicher geschrieben. Er vermengt sie mit der Geschichte von Paul Goullet, der im Paris des Jahres 2033 ein Fotoalbum findet, das von seinen Initialen geschmückt wird. Die Ähnlichkeit der darin abgebildeten Person mit ihm selbst ist verblüffend und deswegen macht er sich auf die Suche nach ihm.
Geheimnisse und die Würde eines Menschen
Damit nicht genug, spielt der Roman in einer schrecklichen Dystopie, einer Zukunft in der eine digitale Diktatur über alles Menschliche gewonnen hat und dem Einzelnen jedes Geheimnis genommen wird. Dabei besteht gerade darin die Würde eines Menschen: in seinen Geheimnissen. Paul Goullet ist noch durch und durch ein Mensch des 20. - und nicht des 21. - Jahrhunderts. Es gab ihn nur „da, wo er sich gerade aufhielt“. Drohnen überwachen alles und jeden und es ist schwer noch so etwas wie Privatsphäre zu haben. Als eine Fremde ihm auf seiner Reise nach Paris, wo er sich eigentlich nur Courbets „Ursprung der Welt“ im Original ansehen wollte, ihm einen verschlossenen Umschlag zusteckt, wird Goullet in eine Geschichte verwickelt, die auch seine eigene ist. Immer wieder lässt Tukur einen auch an den Träumen seiner Protagonisten teilhaben, wechselt die Zeit- und Erzählebenen abrupt, ohne Vorwarnungen, und webt so einen Roman aus feinen silbernen Fäden an dessen Ende sich der Protagonist inmitten eines Spinnennetzes befindet: als Beute. So wie sich die Zeitebenen vermischen, verwickelt sich auch Paul Goullet immer mehr in die eigene Vergangenheit, die Vergangenheit seiner Familie, die von Stuttgart bis nach Banyuls hinter Port-Vendres reicht. „Sein Leben wird ein Abgrund, in dem jeder mit dem anderen zusammenhing, ein unendlich fein verzweigtes, unterirdisches Geflecht, das die Erde seit Jahrtausenden durchzog und alles Böse und Gute, Tote und Lebendige miteinander verband.“
Ein grandioser Roman, der zeigt, dass Geschichte auch nach 100 Jahren noch nicht vorbei ist und alles miteinander zusammenhängt. Geschrieben mit spitzer Feder und scharfen Verstand in einer Sprache, die man nur bewundern kann.
Ulrich Tukur
Der Ursprung der Welt. Roman
2019, Hardcover, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-397273-3
S. Fischer Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-08-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.