1927 erschien der kleine Band „Ein Pyrenäenbuch“. Dafür war Tucholsky im Spätsommer und Frühherbst von seinem damaligen Wohnort Paris aus zwei Monate lang durch das Grenzgebirge gereist, vor allem auf französischem Boden, in Spanien nur wenig. Er war vom Atlantik bis zum Mittelmeer unterwegs mit dem Zug, mit dem Bus, dem Taxi, zu Fuß und auch zu Pferd oder mit dem Esel. Wir staunen ein wenig: Hätten wir den etwas korpulenten Mann für derart beweglich, beinahe sportlich gehalten? Er hat Berge bestiegen (Pic du Midi, Cantadou), eine Schlucht mühsam erkundet usw. Er renommiert damit nicht, macht sich auch schon einmal über sich selbst lustig, so bei einem Ritt durchs Gebirge: „Ich saß oben wie ein Stück Butter auf einer heißen Kartoffel …“
Sein Reisebuch steht in einer langen Tradition, die bis zu Laurence Sternes „Empfindsamen Reise“ zurückreicht und natürlich Heine miteinschließt, den er einmal ausdrücklich zur Lektüre empfiehlt. Tucholsky erkundet in fünfundzwanzig Einzeltexten vielerlei: die Bergnatur, Städte, Gasthöfe, Hotels, Bäder, Historisches. Im Vordergrund stehen allerdings die Menschen, denen er begegnet. Er ist sich auch selbst Thema. Er reflektiert viel, ein Text hat den Titel „Über Naturauffassung“. Insgesamt erweist sich Tucholsky wieder als der bewährte Stilist, Humorist, Ironiker und Ankläger, den wir aus seinen Texten über deutsche Zustände damals kennen. Hin und wieder ist er sich für kleine Albernheiten nicht zu schade, die man für überflüssig halten kann. Und es fehlt auch hier nicht seine bekannte, wenig durchdachte Abneigung gegen Briten und US-Amerikaner.
Die Reihenfolge der Einzeltexte folgt im Wesentlichen dem Verlauf der Reise von West nach Ost. Ein erster Schwerpunkt ist Text Nr. 2: „Stierkampf in Bayonne“. Er sieht ihn sich genau an, ist angewidert und zugleich ein klein wenig fasziniert. In Nr. 5 widmet er sich ausführlich dem Volk der Basken, bevor er in Nr. 9 zu dem Zentrum seines Buches schlechthin kommt: Lourdes. Seine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Wallfahrtsort nimmt etwa ein Viertel des gesamten Bandes ein. Dabei wählt er in den vier Unterabschnitten jeweils einen eigenen Ansatz. Zunächst wirft er ein kurzes Schlaglicht auf die seinerzeit enge Verbindung zwischen Amtskirche und Militär. Dann folgt eine längere, reportageartige Darstellung des alltäglichen Ablaufs des Betriebes rund um die Quelle, gefolgt von der Geschichte der Wallfahrt von Bernadette Soubirous an. Abschließend entwickelt Tucholsky seine Theorie, wie Lourdes funktioniert: für ihn im Wesentlichen ein Phänomen der Massensuggestion. – Weitere Schwerpunkte bilden seine Eindrücke von Andorra (Text Nr. 19), das sich seitdem sehr verändert haben dürfte, und wie er auf den Spuren von Toulouse-Lautrec wandelt (Nr. 24).
„Ein Pyrenäenbuch“ hat lange nicht die Auflagenhöhen von „Rheinsberg“ und „Schloss Gripsholm“ erreicht. Dennoch ist es für den Journalisten und Literaten Tucholsky letztlich charakteristischer als jene beiden Kurzromane. Wer den Autor schon als großen Feuilletonisten schätzt, sollte um dieses Reisebuch keinen Bogen machen oder es wieder einmal zur Hand nehmen.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-12-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.