Tschechows bekannte Erzählung ist seit Generationen in immer neue Auswahlbände und Sammelausgaben aufgenommen worden. Sie ist auch Titelgeschichte eines gegenwärtig im Buchhandel noch erhältlichen Bandes. Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Folgenden geht es nur um diese eine Geschichte.
Sie beginnt in Jalta, wo Gurow Urlaub macht. Er ist knapp vierzig und könnte mit sich zufrieden sein. In Moskau hat er Arbeit bei einer Bank und offenbar gut zu leben. Er hat drei Kinder und für die enttäuschende Ehe entschädigt er sich häufig mit kurzen Affären, die ihn allerdings regelmäßig unbefriedigt lassen. Ursprünglich wollte er mal an die Oper, hat Philologie studiert, besitzt jetzt zwei Häuser in Moskau. In Jalta begegnet ihm nun jene Dame mit dem weißen Spitz. Sie ist noch sehr jung, Anfang zwanzig, erst kurz verheiratet, ohne Kinder und wie er schon etwas enttäuscht vom Leben. Sie beginnen eine Affäre …
Diese zunächst so langweilige Liebesgeschichte, die der Autor mit scheinbarem Missbehagen erzählt und der Leser längere Zeit beinahe mit wirklichem verfolgt, ist vielleicht die realistischste Darstellung des Wunders der Liebe. Die Liebe macht nicht blind, sondern sehend, und diese zwei Liebenden erkennen nun in aller Deutlichkeit vor allem die Trivialität ihres bisherigen Daseins. Sie haben gewiss beide mehr vom Leben erwartet. Allerdings verklärt sie ihn etwas, während er sie schärfer ins Auge fasst, als er ihr später nachreist und sie von fern wieder sieht: „… diese kleine und durch nichts bemerkenswerte Frau, die sich in der provinziellen Menge verlor …“ Sie nehmen ihre Beziehung wieder auf und treffen sich regelmäßig in einem Moskauer Hotelzimmer. Dort sieht er sich einmal selbst unwillkürlich im Spiegel, und der dann folgende Absatz lautet:
„Sein Kopf fing schon an zu ergrauen. Und es schien ihm sonderbar, dass er in den letzten Jahren so alt geworden war und so verloren hatte. Die Schultern, auf denen seine Hände ruhten, waren warm und bebten. Er fühlte Mitleid mit diesem Leben, das noch so warm und schön, aber vielleicht schon nahe daran war zu verbleichen und zu verwelken, wie sein Leben. Warum liebte sie ihn so?“
Er macht sich jetzt klar, dass die Frauen ihn regelmäßig verklären, nach den Bedürfnissen ihrer Phantasie ummodeln, ihn später richtig einzuschätzen lernen, ihn trotzdem immer noch lieben und – nie mit ihm glücklich werden. Diesmal soll es anders sein. Er hat sich also wieder einmal aus Langeweile verliebt, die körperliche Liebe genossen, aber dann konnten sie sich nicht voneinander lösen. Warum? Bei ihr spielt Scham eine große Rolle, sie neigt durchaus nicht zum Ehebruch und kompensiert ihn gewissermaßen mit Ernsthaftigkeit. Außerdem kann sie ihren eigenen Mann nicht so achten, wie sie möchte, und sieht in Gurow den Würdigeren. Und er scheint es zu verdienen, seine stärkste Regung ist jetzt Empathie, vielleicht ein zukünftig tragfähiger Grund.
Sie wollen anders leben, wohl sich beide scheiden lassen, und sie sind sich der Schwierigkeiten bewusst, die ihnen bevorstehen. Soll man ihnen als Leser – die Geschichte ist ja zu Ende – eine günstige Prognose stellen? Tschechows Blick tief in die Seelen von zwei Liebenden ist hier jedenfalls bis zum Wesentlichen vorgedrungen: Wertschätzung und Sorge füreinander, und zwar gerade vor dem Hintergrund einmal endender Zeit. Der Vergänglichkeit haben sie nur ihre Liebe füreinander entgegenzusetzen, und deren Urantrieb scheint zu sein: Rührung. Tschechow wird immer aktuell bleiben.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-10-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.