Einen Klassiker des Lebens, so könnte man dieses letzte Buch Lew Tolstois nennen. „Für alle Tage“, der Titel lässt es ahnen, ein wirkliches „Lebensbuch“ hat Tolstoi 1906 zu Papier gebracht, eine gesammelte Niederschrift seiner Erkenntnisse, seines Blickes auf das Leben, seiner in einem ereignisreichen Leben und umfassendem Eintauchen in andere Kulturen gesammelten Weisheiten.
Gerade in seinen letzten Jahren hat der Dichter von „Krieg und Frieden“ eine deutliche Wandlung seiner inneren Einstellung und seiner äußeren Lebensweise erfahren.
Spätestens mit seinem Roman „Auferstehung“ stellte er sich, vor allem, gegen das orthodox-kirchliche System Russlands, wurde exkommuniziert und führt mehr und mehr in die innere Entwicklung und Vertiefung seiner eigenen, christlich religiösen und moralischer Wertbetrachtungen. Gegen die Formen ritueller Religion, die er ablehnte, setzte er intensiv den Weg einer eigenen und persönlichen Entwicklung und persönlichen Glaubens.
Eine durchaus drastische Wandlung von einem, der in früherer Selbstaussage „den Ruhm mehr liebte als das Gute“ und der nun, in seinen späten Jahren, sich nur mehr auf die Spur des Guten machte.
Eine Entwicklung, die ihn letztlich, innerlich, aber auch äußerlich, Abstand selbst von seiner Familie nehmen ließen.
Auf den knapp 730 Seiten des Buches versteht er es, diese inneren Einsichten und Wandlungen in, natürlich, hervorragendem Stil und treffender Sprache mit zu teilen.
Durch die Monate des Jahres geht er, für jeden Tag findet sich eine Eintragung, ein Hinweis, eine Erkenntnis, eine Weisheit. Kleine Geschichten und Betrachtungen ergänzen die Tageseinträge ebenso, wie eine Monatslektüre für jeden Monat von ihm gestaltet wird.
Trotz des manches Mal unübersehbar streng moralisch und antiquiert wirkenden, erhobenen Zeigefingers, der uns in der gegenwärtigen Welt mit all ihren Freiheiten eher merkwürdig anmuten mag, versteht er es unnachahmlich, den inneren Themen in lebendigen Geschichten Ausdruck zu verleihen.
Die Geschichte zum Vaterunser über eine Mutter, die das Sterben des Kindes miterlebt setzt existentielle Fragen und mögliche Antworten in den Raum, ohne je kitschig oder einfältig zu wirken. Wie so oft in Tolstois literarischem Werk ist auch diese Geschichte dem einfachen Alltag russischer Menschen entnommen und von ihm gedeutet worden.
Seine knappe Einlassung im Blick darauf, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen erscheint auf den ersten Blick illusionär, auf den zweiten Blick aber findet sich auch hier jener Kern echter Weisheit, der lange nachwirkt.
Hunderte von Zitaten, Weisheiten, Gedanken und Geschichten, sind es, die Tolstoi in diesem Buch vorlegte. Immer in exzellenter Sprache, jede einzelne ein Vergnügen, zu lesen. Gedanken, die Tolstoi aus der reichen Tradition der Weisheits-Literatur aller Kulturen schöpft und diese dann durch sein eigenes Nachsinnen in seine gedankliche Richtung eines ethisch guten Lebens zu verbinden.
Somit bietet das Buch, auch heute noch, trotz manch altmodischer, vielleicht überholter, manchmal auch merkwürdiger An- und Einsichten zum einen inhaltlich vielfach Bedenkenswertes.
Zum anderen erlaubt das Buch sprachlich und literarisch einen hervorragenden Blick auf den späten Tolstoi und das, was ihn innerlich auf seinen gewandelten Weg gebracht hat.
Durch Aphorismen, Gleichnisse und Erzählungen mobilisiert Tolstoi in bester Weise alle Erzählformen, um seine Einsichten und Werte zu verdeutlichen und im Leser zu verankern. Bis zuletzt ein großer der Literaten, der seine religiösen Überzeugungen in unnachahmlicher Form auszudrücken verstand.
Ergänzt durch ein Vorwort von Volker Schlöndorff und ein interpretierendes Nachwort von Ulrich Schmidt erschließt sich auch die Bedeutung eher zeitgebundener Gedanken, deren Zusammenhang heute nicht mehr automatisch hergestellt werden kann. Vor allem eben, dass der „späte Tolstoi“ ein Ärgernis ist und bleibt, an dem die Gemüter sich scheiden.
„In der Natur des Menschen vollzieht sich harmonisches Wachsen in Schweigen und Stille; geräuschvoll ist bloß das Destruktive, Lasterhafte und Grobe“. Dieses Zitat von Mallory setzt Tolstoi über seine Betrachtungen zum 24. Dezember und bietet letztlich mit diesem Buch in sprachlicher Hochkultur dem Leser die Möglichkeit, in der Form literarisches Genie zu bewundern und im Inhalt durch das stille Lesen dem Zitat fruchtbringend zu folgen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-07-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.