Dieser wunderbare und beeindruckende kurze Roman des irischen Schriftstellers Colm Toibin erzählt die Geschichte Jesu auf eine ganz andere Art, wie wir sie aus den Evangelien kennen, ohne deren Überlieferung zu verfälschen oder die dort berichteten Ereignisse auch nur einen Moment lang anzuzweifeln.
Erzählerin ist die Mutter Jesu, Maria, die viele Jahre nach dem Kreuzestod ihres Sohnes Jesus in Ephesus wohnt, wohin sie nach der Kreuzigung mit Hilfe einiger Jünger geflohen ist.
Seit einiger Zeit bekommt sie regelmäßig Besuch von zwei Männern, deren Auftreten und Verhalten sie als unverschämt empfindet. Sie wollen, indem sie Marias Erinnerung manipulieren, sie in die frühchristliche Legendenbildung um sein Leben und seinen Tod einbinden. Doch sie weigert sich, sich an Ereignisse und Fakten zu erinnern oder sie zu bestätigen, die es gar nicht gegeben hat. Stattdessen erinnert sie sich für sich selbst (und den von dieser Prosa ebenso begeisterten wie erschütterten Leser), wie sie das damalige Geschehen um ihren Sohn erlebt hat.
Als sie einen Hinweis erhält, die Verhaftung ihres Sohnes stehe kurz bevor, reist sie nach Kana, wo sie Jesus bei einer Hochzeit weiß, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, nach Jerusalem zu gehen, in seinen sicheren Tod. Sie liebt ihren Sohn, hält wohl auch seine Wundertaten für real – sogar die Auferweckung des Lazarus wird ohne kritischen Unterton berichtet – doch das Gerede, er sei der Messias, nimmt sie nicht ernst. Im Gegenteil, je mehr Jesus in seiner Rolle als Prophet und Wundertäter aufgeht, desto fremder wird er ihr. Von der wachsenden Gruppe seiner Anhänger ganz zu schweigen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie diese in ihrer großen Mehrheit für Spinner und Sektierer hält.
Es geht Toibin die ganze Zeit über darum, wie den biblischen Texten übrigens auch, denen er ganz nahe bleibt, ganz tief zu verstehen, was der Mensch ist und was er sein könnte. Dieses Nachdenken hat das Leben Jesu angestoßen, er hat Generationen von Menschen beeinflusst bis heute. Doch in der Schilderung von Coibins Maria, in ihrem Testament, ist das damalige Geschehen von aller theologischen Reflexion befreit. So wie er sie das Geschehen am Kreuz erleben und schildern lässt, wie er sie dieses sie bis an ihr Ende verfolgendes Trauma in Worte fasst, ist erschütternd. Eben weil es keine religiöse Erhöhung des Geschehens gibt, ist es so dramatisch.
Und als die beiden Besucher gegen Ende des Buches noch einmal kommen, um sie mit ihrem Geschwätz zu quälen, da sagt sie etwas, was gläubige Christen als Häresie empfinden werden:
„Ich war dort. Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr eine Zeugin braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.“
Ein beeindruckendes und nicht nur für Christen zutiefst verstörendes Buch.
Colm Toibin, Marias Testament, DTV 2015, ISBN 978-.3-423-14460-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-12-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.