„Bisogno ascoltare le voci che sembrano inutili“, schreit der Verrückte Domenico (Erland Josephson) vom Reiterdenkmal Marc Aurels auf dem Campidoglio (Kapitolsplatz) in Rom herunter, bevor er sich mit Benzin übergießt und sich als lebende Fackel in die Luft wirft, um einen neuen Pakt mit der Welt somit zu unterschreiben. „Voglio un nuovo patto col mondo: che ci sia sole di notte e neve in agosto“. Der brutale Ausklang eines der feinfühligsten und sensibelsten Filme der Cinematographie wird begleitet von Beethoven`s Neunter: „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“, während Domenico, inzwischen am Boden angelangt, sich in seinen Flammen wälzt und schließlich kläglich verendet. Zur selben Zeit löst Gorchakov sein Versprechen gegenüber Domenico ein. Im von Rom fernen Bagno Vignoni in der Toskana, geht er, eine Kerze haltend, langsam durch das Thermenbecken der Santa Katherina. Dreimal muss er neu beginnen, bis es ihm endlich gelingt, das ganze Becken zu durchqueren und die Kerze am anderen Ende des Pools hinzustellen: und sie brennt noch! Bisogno ascoltare le voci che sembrano inutili: Man muss manchmal auf die Stimmen hören, die unnütz erscheinen, fürwahr!
Die fantastischen Bilder wechseln sich in Nostalghia mit den schönsten Schauplätzen ab. Da wäre einerseits – wie schon erwähnt – Rom, die ewige Stadt, andererseits San Galgano, die Kathedrale ohne Dach und Fenster oder eben Bagno Vignoni und Monterchi, alle drei in der Toskana. Tarkovsky stellt seine Szenen gerne ans Wasser, etwa wenn sein Protagonist, Gorchakov (Oleg Yankovsky), im Wasser steht und einem kleinen Mädchen eine Geschichte von zwei Männern erzählt, von denen der eine den anderen aus einem Teich retten will und der andere ihn anherrscht: „Was machst du? ICH lebe hier!“ Er fühlt sich beleidigt, denn er will gar nicht gerettet werden, für ihn ist es sein Leben. Gorchakov, der eigentlich nach Italien gekommen ist, um Nachforschungen über den in Bologna wirkenden russischen Komponisten Sasnovsky anzustellen, betrinkt sich mit nassen Füßen mit Vodka und ruht sich dann am Wasserrand aus, während er einen Gedichtband von Arseny Tarkovsky (der Vater des Regisseurs, der ein Poet war) verbrennt. Seine ihn begleitende Übersetzerin Eugenia (Domiziana Giordano), der er ihn zuvor geborgt hatte, um ihn ihr sogleich wieder zu entreißen, spielt für ihn als Frau keine Rolle. Sie bemüht sich um ihn, beschimpft ihn schließlich und verschwindet nach Rom zu einem anderen. Gorchakov leidet unter einer schlimmen Krankheit und diese Krankheit nennt sich Nostalgia: wie der Regisseur Tarkovsky selbst hat er Frau und Kind in Russland zurückgelassen, um nach Italien zu kommen, aber er kann ohne sie nicht leben und will zurückkehren. Auch wenn ihm dort eventuell dasselbe Schicksal droht wie seinem Komponisten: er hatte sich nach seiner Rückkehr aus Bologna selbst erschossen.
„I`m tired of seeing these sickingly beautiful sights. I want nothing more just for myself.”, wobei Gorchakov das “just” besonders betont. Denn was ist all diese italienisch-toskanische Schönheit ohne die Gegenwart seiner Familie, ohne die Gegenwart derer, die er liebt? Schon in der Anfangssequenz des Films wird Tarkovskys Abneigung gegen Eugenia klar. Sie schafft es nicht, sich vor dem Altar mit dem Bildnis der Madonna del Parto in der Cappella di Santa Maria di Momentana in Monterchi niederzuknien, ihr fehlt die Demut. „Warum beten immer nur die Frauen?“ fragt sie einen männlichen Besucher der Kirche und der Gläubige, ein einfacher Mann antwortet, dass Frauen zum Kinder kriegen da seien und sich um diese kümmern müssten. Alles andere sei nicht so wichtig. In Chiesa della Madonna del Parto befindet sich ein Fresko, das wohl die einzige „schwangere“ Madonna zeigt, deswegen auch der Name. Das Bild zeigt einen deutlich gewölbten Bauch der Madonna und einen länglichen weißen Schlitz. Tarkovsky stellt genau dieses Fresko in seiner Filmszene auf eine fantastische Art und Weise nach: Eine weibliche Gläubige öffnet den Schoß einer auf Stelzen herbei getragenen Marienstatue und ein Schwarm weißer Kanarienvögel fliegt mit lautem Gezwitscher heraus, die Federn fallen in die Kerzen, die die ganze Kirche erläutern und die Szenerie schwenkt im selben Moment zu Gorchakov, der in einem fernen S/W-Russland eine Feder aufhebt. Die Rückblenden werden als Erinnerungen an Russland immer in Schwarz/Weiß gezeigt, während die Handlung des Films in Farbe fortschreitet.
Eine der atemberaubendsten Szenen ist wohl jene, in der Gorchakov auf dem Bett in seinem Hotelzimmer sitzt und langsam in sich zusammensinkt, während es draußen immer dunkler wird und er schließlich einschläft, in absoluter Dunkelheit. Aufgeweckt wird er dann von Eugenia und dem neu anbrechenden Tag. Beim Spaziergang mit Eugenia am Thermenbecken in Bagno Vignoni will er den Verrückten Domenico zum Abendessen einladen, dabei ist es morgens in der Früh. Gott habe zur Heiligen Katherina gesagt: „Tu sei quella che non è, io invece colunque sono“. Eine wunderschöne Kamerafahrt zeigt zuerst die im Becken schwimmende Gesellschaft, die sich über Domenico unterhalten, der seine Familie sieben Jahre in seinem Haus eingesperrt hatte, um sie vor dem Weltuntergang zu retten. Dann zeigt die Kamera die Dreiergruppe Gorchakov-Eugenia-Domenico und aus dem Becken steigt der Wasserdampf, das Lieblingselement Tarkovskys, das auch als dichter Nebel im Film sehr oft verwendet wird, wobei es sich bei „Nostalghia“ überhaupt um eine ziemlich herbstliche Landschaft und Stimmung handelt. Das Wasser ist nämlich fast überall, auch in Domenicos Haus, wo es sogar als Regen durch den Dachstuhl eindringt und über seinem Bett durch eine Plastikplane behelfsmäßig zurückgehalten wird. Wasser als reinigendes Element, genauso wie das Feuer am Ende des Films, eine Metapher für die Katharsis der Protagonisten. Feuer ist auch die Lösung für eine Kalabresin, die das Haus ihres Arbeitgebers anzündete, weil sie Heimweh nach Hause hatte, wie die Hoteldame Eugenia und Gorchakov erzählt. Sie wollte eben nach Hause und hatte Nostalgia, so schaffte sie einfach das aus der Welt, was sie am meisten daran hinderte. Auch Domenico wird sich am Ende durch Feuer beseitigen, während Gorchakov im trocken gelegten Thermenbecken eine Kerze hochhält, eine Kerze die Leben bedeutet.
An einer anderen Stelle fragt ein kleiner blonder Junge, ob das das Ende der Welt sei. „Papa, è questo la fine del mondo?“ Domenicos Sohn wird in einer Rückblende aus dem Haus befreit, aber was wird er ohne seinen Vater machen, wenn das Ende denn wirklich kommt? Tarkovsky gibt zwar keine Antwort über die genauen Hintergründe des Familiendramas, aber ist doch voller Sympathie für den Verrückten Domenico, der sich am Ende des Films für eine bessere Welt opfert. Auch wenn dieses Opfer sinnlos ist, brennen sich seine Worte den Zuhörern ins Gehirn ein, sie sind voller Pathos und verbreiten eindringlich die Idee eines besseren Lebens vielleicht nach dem Tod: „La strada di nostri cuori è coperta d`ombra, bisogno di darci la mano“, aber sein Appell verhallt ungehört, keiner löscht seinen brennenden Körper, auch Eugenia kommt zu spät, um seinen Tod zu verhindern. „Der Tod hat für mich keine Realität“ hat Tarkovsky in einem Interview einmal gesagt, er befreie von den Fesseln der Welt, sagt er, aber nicht ohne mit beabsichtigter Ironie hinzuzufügen: „Vielleicht denke ich dann anders, wenn ich einmal in die Situation komme.“
„Feelings unspoken are unforgettable“, sagt Gorchakov an einer Stelle bei seinem Monolog mit den Füßen im Teich, er spricht in seiner Muttersprache und entschuldigt sich bei seiner kleinen Zuhörerin für sein schlechtes Italienisch. Diese Szene entbehrt aber auch nicht einer gewissen Komik, denn Gorchakov macht sich lustig über die italienischen Schuhe, die jeder will, und er steht nun mit eben solchen tief im Wasser. Zehn Jahre haben sie gehalten, aber diese Szene werden sie wohl nicht mehr überleben. Wie steht es um eine Welt, in der ein Verrückter die Wahrheit sagen muss, fragt Domencio später vor seinem Abgang in eine bessere Welt. „Che razza di mondo è questo, se un pazzo Vi deve dire che Vi devete vergognare?” Aber was ist die Wahrheit? Wer diese nicht zu unterscheiden weiß von der Lüge, sollte sich wohl tatsächlich schämen. Eine positive Botschaft vermittelt der Film in jedem Fall, zumindest für vor dem Mauerfall: der Film entstand 1983. Als Eugenia Gorchakov fragt, was man denn tun solle, damit die Länder und ihre Bewohner sich besser verstehen könnten, da er es ihr in Abrede gestellt hatte, ihn jemals zu verstehen, antwortet dieser: „Die Grenzen zerstören“. „Welche Grenzen denn?“ „Die das Staates.“ Eine ziemlich anarchistische Antwort für einen religiösen Regisseur wie Tarkovsky, aber immerhin auch eine Anleitung zum Glücklichsein. Einer der besten Filme nicht nur dieses Regisseurs, sondern der internationalen Cinematographie. In seiner BildIntensität unvergleichbar und es soll Menschen geben, die nach diesem Film ihr Leben radikal geändert haben.
Das Bonusmaterial ist eine Dokumentation des Filmemachers Dmitry Trakovsky, der einige Persönlichkeiten interviewt, die Tarkovsky noch persönlich kannten. Er starb 1986, aber für viele dieser Personen ist er unsterblich geblieben, das wollte er auch erreichen. Krystof Zanussi erzählt von einer persönlichen Begegnung mit Tarkovsky in der er zwei Wochen vor seinem Tag gesagt haben soll, dass Zanussi ihn als sündigen Menschen in Erinnerung behalten solle, ja, die ganze Welt solle so an ihn denken. Wir würden alle so unschuldig tun, ergänzt Zanussi, aber seien gezeichnet Schuld. Trakovsky interviewt auch Tarkovsky Sohn, der von seiner eigenen Leidensgeschichte erzählt, aber auch einige unglaubliche Anekdoten aus der Intimsphäre preisgibt. So schwebe in dem Film „Stalker“, den Tarkovsky 1979 gedreht hatte, ein Kalenderblatt mit dem Datum 28.12. durch einen Bach, genau der Tag, an dem der Regisseur später starb.Andere Interviews zeigen die im Alter noch schöner gewordene Domiziana Giordano, die sogar das Skript von Nostalghia zeigt, das nur 60 Seiten gehabt habe. Giordano bezeichnet Tarkovsky als fasznierende Persönlichkeit, aber auch als „orthodox, religiös und maschilista“. Der schwedische Schauspieler Erland Josephson wird sogar in Stockholm aufgesucht, „at the edge of Europe“ wie Trakovsky sagt, und beschreibt die Zusammenarbeit mit Tarkovsky als eine der besten in seinem Leben. „Meine Persönlichkeit ist die einer Pflanze“, soll er gesagt haben und sensibel wie eine Pflanze starb er erst 54-jährig 1986 in Paris an Krebs. Tarkovsky hat in seinen Filmen zeitlebens die Schwachen bevorzugt und Biegsamkeit und Schwäche als Zeichen des Lebens gewertet, während Härte und Stärke den Tod bedeuteten. Tarkovsky ist ein Magier, dessen Bann man sich nur schwer entziehen kann.
In der Schlusseinstellung, dessen Standbild übrigens auf dem Cover dieser Ausgabe von Nostalghia zu sehen ist, sieht man noch einmal Gorchakov mit Domenicos Schäferhund vor einem kleinen Tümpel mit einem Holzhaus im Hintergrund in einer offensichtlich russischen Landschaft sitzen, was man auch daran erkennt, dass sie wie die Erinnerungssequenzen in S/W gedreht ist. Die Kamera fährt ganz langsam auf eine Supertotale und bald erkennt man, dass die gesamte Szenerie sich im Inneren der gewaltigen Abbazia San Galgano in der Toskana befindet und…es beginnt zu schneien: „Voglio un nuovo patto col mondo: che ci sia sole di notte e neve in agosto“. Die Heimat, die Gorchakov in seinem Herzen vermisste, fand er nun in den Worten des Verrückten Domenicos. Unter der Abbazia di San Galgano, die weder ein Dach noch Fensterscheiben hat, im offenen Himmel der Welt, findet auch sein Russland ein zu Hause und die Nostalghia selbst wird zur Heimat Gorchakovs.
Andrei Tarkovsky
Nostalghia
1983/2010 www.alamodefilm.de
im Vertrieb bei AL!VE www.atmedien.de
Italien/UdSSR
125 Minuten Farbe und S/W
Italienisch/Deutsch
Bonusmaterial „Meeting Andrei Tarkovsky“
Dokumentation von Dmitry Trakovsky
90 Minuten
Musik von Verdi, Beethoven
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-05-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.