„Man wünscht sich im Grunde immer den Tod des eigenen Bruders“ analysiert Julie Ballanger den unverdienterweise zu Reichtum gekommenen Millionär Michel Hartog. Aber vorgestellt werden sich die beiden von einem Arzt in der Klapsmühle. Hartog will Julie Arbeit als Hausmädchen geben, obwohl sie schon seit fünf Jahren in der Anstalt sitzt. Oder vielleicht gerade deswegen? Hartog, der durch den Tod seines Bruders seine Fabriken geerbt hat beschäftigt aber noch viele andere Außenseiter in seinem Haushalt, um es seinem kleinen Neffen, dessen Vormund er noch bis zum seinem 18-jährigen Geburtstag ist, so (un)angenehm wie möglich zu machen.
Der Wohltäter und seine Bediensteten
„Der Chef tut wie ein Irrer Gutes. Stell nur Behinderte an. Baut sogar Fabriken für Behinderte. Die Jungs in den Rollstühlen arbeiten am Fließband. Die Köchin ist Epileptikerin. Der Gärnter hat nur noch einen Arm, praktisch für die Gartenschere. Eine Sekretärin ist blind. Der Diener hat Bewegungsstörungen, deswegen muss man sich wundern, wenn das Essen kalt auf den Tisch“, erzählt der Chauffeur von Monsieur Hartog Julie. Doch der scheinbare Wohltäter der Menschheit verbirgt ein Geheimnis, denn ein ehemaliger Kollege von ihm, Fuentes, schaut öfter bei ihm vorbei und verprügelt ihn, ohne dass sich Hartog wehren würde. Und dann werden Julie und der kleine Neffe Peter entführt, bestimmt steckt dieser verrückte Fuentes dahinter! Oder doch nicht?
Roman noir, Film noir, Position noir
Jean-Patrick Manchette, der zwischen 1942 – 1995 lebte und einer der bedeutendsten Autoren des französischen Roman Noir war, wird in vorliegender Publikation der Edition Moderne schon zum zweiten Mal von Jacques Tardi interpretiert und bebildert. Zuvor ist beim selben Verlag schon „Im Visier“ erschienen, ein weiterer Roman von Jean-Patrick Manchette. Aber einige seine Werke wurden auch schon verfilmt, zum Beispiel „Der Schock“ von Robin Davis (1982), mit Alain Delon und Catherine Deneuve in den Hauptrollen nach der Romanvorlage „La position du tireur couche“ von Jean-Patrick Manchette.
Existentialismus in lost noir
Auch „Zum Abschuss freigegeben“ hat die charakteristischen Eigenschaften eines „noir“: existentialistische Ängste, schwarz-weiße minimalistische Bilder, die die Ereignisse in den Fokus fassen und auf den Punkt bringen. Die meisten Werke, die dem „noir“ zugerechnet werden sind vor dem Hintergrund oder aufgrund der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges erschienen, der zertrümmerte Hoffnungen auf beiden Seiten hinterließ. So ist auch in „O Dingos, O Chateaux!“ – so der ursprüngliche französische Originaltitel – die einzige positive Integrationsfigur verloren im Sinne von „lost“. Julie ist tabletten- und alkoholabhängig und kommt so schlecht mit dem Leben draußen zurecht, dass sie es lieber in der Irrenanstalt verbringt, bis Hartog sie herausholt und sie beweist, dass sie es immer noch auf dem Kasten hat.
O Dingos, O Chateaux!
„O Dingos, O Chateaux!“, was wahrscheinlich eine Anspielung auf ein Poem („O saisons, O chateux!“) des französischen Dichters Arthur Rimbaud ist, erhielt als Roman 1972 den Literaturpreis Grand Prix de littérature policière und als Graphic Novel ist es zumindest preisverdächtig, denn allein die Charaktisierung des magenkranken Killers Thompson, der sich vor Schmerzen krümmt und dennoch mit aller Gewalt seine „Mission“ erfüllen will, ist lesenswert. Aber auch Textstellen wie diese: „Auf dem Rasen urinierte ein junger Mann auf einen Maulwurfshügel. Er hatte sich hingekniet, um genauer zielen zu können. Er pinkelte sorgfältig in das Loch auf dem Haufen.“ lassen „Zum Abschuss freigegeben“ zu einer wirklich unterhaltsamen Lektüre werden. Bei Edition Moderne ist 2011 auch IM VISIER mit Jean-Patrick Manchette, 106 Seiten, schwarzweiß, 22 x 30 cm, Hardcover erschienen. Wer einen Blick auf die Verlagsseite wirft, kann sich auch eine Leseprobe beider Graphic Novels ansehen.
Jacques Tardi/Jean-Patrick Manchette
ZUM ABSCHUSS FREIGEGEBEN
ISBN ISBN 978-3-03731-097-7
96 Seiten, schwarzweiss, 22 x 30 cm, Hardcover
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-11-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.