Ein Blick in einen Wasserfall. So fängt der dem Horror/Thriller zuzuordnende neunte Film der polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska an. Denn das Wasser wird noch eine weitere, verhängnisvolle Rolle in diesem religiös angehauchten Psychothriller spielen.
Gnade und Unterwerfung
"Akzeptierst du meine Gnade?" Der Sektenführer (Michiel Huisman) lässt sich von seinen Anhängerinnen gerne mit Hirte ansprechen. Er hat ausschließlich Frauen um sich gesammelt, die entweder Ehefrauen oder Töchter genannt werden. Seine Gemeinschaft lebt in den Wäldern, fern jeglicher Zivilisation. Dort will er seine ihm treu ergebenen Anhängerinnen vor den Zudringlichkeiten der Welt schützen. Jedesmal wenn er eine Frau für den Geschlechstakt auswählt stellt er ihr am Esstisch vor versammelter Gemeinde, die eingangs zitierte Frage. Die Frauen willigen gerne in diesen Gnadenakt ein, bedeutet es doch, auserwählt zu sein. Auch die Töchter kommen dran. Als es an die empfindsame Selah (Raffey Cassidy) kommt, bröckelt die mühsam aufrecht erhaltene Fassade des Gurus langsam. Denn Selah hat die Wahrheit über ihre Mutter erfahren, die nicht (vom Hirten) gerettet wurde, weil es ein Test ihres Glaubens so verlangte. Als es zu einem Zwischenfall kommt, muss sich die Gemeinschaft auf die Suche nach einem neuen Zuhause machen. Dort wird die Gemeinschaft von ihrem Hirten ein wiederholtes Mal im Wasser getauft. Selah hält er dabei etwas länger unter Wasser, gerade so lange, dass sie nicht ertrinkt. Was er nicht weiß, ist, dass Selah Visionen hat. Und diese zeigen den Hirten bald als eigentlichen Gehörnten.
Der Hirte und seine Herde
"Meine treue Herde, als Belohnung für Euer Vertrauen gebe ich Euch das Paradies auf Erden: Eden." Die kompromisslose, polnische Starregisseurin Malgorzata Szumowska hat eine Jesus-Geschichte der anderen Art inszeniert. Die 12 Apostel sind seine Anhängerinnen und ihre Töchter, die ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Wie es zu dieser (weiblichen) Unterwerfung kam wird von der Regisseurin zwar leider ausgespart, jedoch wird die Rebellion gegen den männlichen Patriarchen ästhetisch kunstvoll inszeniert. Besonders die Protagonistin Ragen Cassidy, die schon in The Killing of a Sacred Deer (2017) mitspielte, die Blicke auf sich. Ihre durchdringenden blauen Augen rufen den Satz "Wenn Blicke töten könnten" im Zuschauer hervor. Dabei ist sie gerade einmal 21 Jahre alt und gehört zu den Nachwuchstalenten der britische Filmindustrie. Das bewies sie schon als 12-jährige neben Jeff Jensen, Brad Bird, Britt Robertson, George Clooney and Damon Lindelof in Tomorrowland (A World Beyond) und später Vox Lux. Der Film wurde in der Gegen um den Lough Tay gedreht. Wem Midsommar oder die Fernsehserie The Handmaid’s Tale gefallen hat, wird auch in The Other Lamb eine willkommene Abwechslung finden. Denn es geht ausschließlich um die Perspektive der Frauen und nicht um die Sicht des Hirten. Ästhetisch und atmosphärisch sicherlich herausragend, wenn auch die Genese etwa zu kurz gekommen ist. Aber allemal ein Film für Fans des Genres.
Malgorzata Szumowska
The Other Lamb (Blu-ray)
Mit Raffey Cassidy, Michiel Huisman, Denise Gough u.a.
2022 USA/Irland/Belgien 2019, Horror, ca. 97 min, FSK ab 16
Extras: Trailer
Koch Media Film
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-06-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.