Dass er Minimalschwänke des menschlichen Alltags - oder der Kindheit gar - in einem ganz feinen, unterhaltsamen Deutsch nacherzählen und sie plötzlich zur philosophischen Lebenseinsicht zusammenbinden könnte, das hätte man dem Autor (zusammen mit Helmut Dietl) von (immerhin) „Der ganz normale Wahnsinn“, „Monaco Franze“ und „Kir Royal“ auf Jahre raus noch immer zugetraut. Und nicht nur bei dem einen Roman „Das Parfum“, dem einen Monolog „Der Kontrabass“ und den zwei Kindergeschichten für Herangewachsene „Die Taube“ und „Herr Sommer“ hätte es bleiben können. Danach aber sein großes Schweigen, unterbrochen einzig 1995 mit noch mal „Drei Geschichten“ und 2006 durch einen Essay vom Schreiben über Liebende. Oder ist er halt sehr weise gewesen, dieser Herr Süskind: „Ich könnt das zwar weiter sehr gut, aber ich geh nicht als der in die Geschichte ein, der die Leut langsam in ihren Tod gelangweilt hat, ich hör auf, wenn’s am Schönsten war“?
129 Seiten hätte das Buch gewiss nicht (ist aber dennoch zu lang und an manchen Stellen gefährlich fett mit Übertreibungen aufgeschäumt), wären nicht die vielen (jedoch sehr hübschen) Zeichnungen von Sempé drinnen, dessen kleiner Nick hier für einmal an einem oberbayerischen See herumgeistert. Und wäre es nicht so großzügig gesetzt worden.
In der Geschichte, die nicht wirklich vom Herrn Sommer handelt, sogar eher schon von der vertrockneten Klavierlehrerin des Ich-Erzählers, bzw., in Wahrheit natürlich vordringlich von ihm selber, wie er als kleiner Junge seine erste große Krise meistert, wird von einem Sonderling berichtet, der unablässig am Geschwind-Wandern ist, hierbei en passant, ohne es selbst überhaupt zu merken, das Leben des Jungen rettet, indem er dessen Selbstmordversuch stört, am Schluss im Gegenzug von diesem Jungen aber nicht davor bewahrt werden kann, selbst in den Tod zu laufen.
Erzählt ist das sehr manierlich, virtuos klassisch (genau gesagt: wie irgendwo zwischen Keller, Storm und Mann hervor). Genau richtig zum sich Wohlfühlen für alle Anhänger des Augenzwinkernden und Kleincharmanten. Dabei geht’s, wie ja mehr oder weniger in allen Büchern des Patrick Süskind, eigentlich doch um eine Tragödie: um einen sensiblen Sonderling, der es bei den Menschen nicht aushält, lieber für sich sein will, das aber auch nicht ertragen kann.
Ob es das wirklich gebraucht hätte, diesen extrem langen Mittelteil mit der Klavierstunde und einem Popel an der Taste als dem Wendepunkt der Novellenkurve, man fragt sich das. Aber denken wir an eigene Kinderlebnisse! Dieser merkwürdige Typ mit dem Mantel und dem Rucksack, den du jedes Mal irgendwo herumrennen sahst, der aber nie mit jemandem sprach? Diese Klavierlehrerin, die dich mit vertrackten Etüden piesackte und die unbefriedigte Sadistin endlich herausließ, wenn sie sich von dir verspottet dünkte?
Warum nicht genau diese Zwei zu einer einzigen Lebenserkenntnis zusammenquetschen? Dass du dem Untergang nur so lange davonlaufen kannst, bis du es nicht mehr kannst. Weil die Fabel dann irgendwie kindisch wäre oder affig, Belanglosigkeit und Belanglosigkeit ergibt Tiefbelang? Ah was! Kritikaster allenthalben!
Aus alter Thomas-Bernhard-Verehrung zitiere ich die Bernhard-Stelle vom Buch. Obwohl die nicht repräsentativ ist.
Zitat:
Noch nie hatte ich ihn zu irgend jemand im Ernst sagen hören: „Sie werden sich den Tod holen!“. „Dieser Ausdruck ist ein Stereotyp“, pflegte er zu erklären, wenn er irgendwo den Satz „Sie werden sich den Tod holen“ hörte oder las, „und ein Stereotyp – merkt euch das ein für allemal! – ist eine Redewendung, die schon so oft durch die Münder und die Federn von Krethi und Plethi gegangen ist, daß sie überhaupt nichts mehr bedeutet. Das ist genauso“ – fuhr er dann fort, weil er nun schon mal in Fahrt gekommen war –, „das ist genauso dumm und nichtssagend, wie wenn man den Satz zu hören bekommt: „Trinken Sie eine Tasse Tee, meine Liebe, das wird Ihnen guttun!“
Noch nie hatte ich ihn zu irgend jemand im Ernst sagen hören: „Sie werden sich den Tod holen!“. „Dieser Ausdruck ist ein Stereotyp“, pflegte er zu erklären, wenn er irgendwo den Satz „Sie werden sich den Tod holen“ hörte oder las, „und ein Stereotyp – merkt euch das ein für allemal! – ist eine Redewendung, die schon so oft durch die Münder und die Federn von Krethi und Plethi gegangen ist, daß sie überhaupt nichts mehr bedeutet. Das ist genauso“ – fuhr er dann fort, weil er nun schon mal in Fahrt gekommen war –, „das ist genauso dumm und nichtssagend, wie wenn man den Satz zu hören bekommt: „Trinken Sie eine Tasse Tee, meine Liebe, das wird Ihnen guttun!“
[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2015-04-06)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.