Im Jahr 1879 machte sich Robert Louis Stevenson an Bord eines Auswandererschiffes von Schottland auf den Weg in die USA, um zu der Frau zu gelangen, die er später heiraten sollte. Die Schiffspassage nach New York und die folgende Zugreise nach San Francisco nutzte der damals schon bekannte Schriftsteller, um inkognito das ganze Unternehmen zu studieren. Dabei gelangen ihm exzellente Sozialstudien über die verschiedenen Typen von Emigranten, die durch ihren Charakter sehr stark in eine tabulose Sozialkritik gingen, sodass die Familie Stevensons bis nach seinem Tod das Erscheinen dieser Aufzeichnungen verhindern konnte. Stevensons Reisebericht ist ein lesenswertes, meisterhaft geschriebenes Buch, das zahlreiche Aufschlüsse über die Psychogramme der Auswanderer, die Befindlichkeit des Alten Europa und das Verhältnis der Neuen Welt zu seinen Wurzeln vermittelt.
Dabei bricht Stevenson in sehr beeindruckender Weise mit bestimmten Klischees, die bis in unsere Tage überdauert haben. Seinen Beobachtungen zufolge sind es nicht die Jungen, Hungrigen, Talentierten und Tatendurstigen, die ihrer Heimat den Rücken kehren, sondern in der Mehrheit eher Menschen mittleren Alters, die mit ihren Familien vor Missgeschicken und Lastern fliehen wollen, die sie durch ihre Eigenschaften aber mit im Gepäck tragen. Sie unterliegen einer Illusion, die gewaltiger nicht sein kann und Stevenson entlarvt den Selbstbetrug mit aller Schärfe. Auch den Konservatismus der Arbeiterklasse nimmt er aufs Korn und illustriert dieses an zahlreichen Beispielen. Die soziale Stratifikation auf dem Schiff, die sich an der Zugehörigkeit zu verschiednen Decks unterschiedlicher Preisordnung bis hin zu den blinden Passagieren festmachen lässt, verhilft ihm ebenfalls zu Beobachtungen, die von ihrer sozialen Wirkung großartig sind. So beschreibt Stevenson, wie die Kinder der unterschiedlichen sozialen Klassen immer wieder gerne an der Reling spielen und herumklettern. Während die Eltern der höheren Gesellschaft sofort intervenieren und wegen der Gefahr ihre Kinder dort weg holen, beobachtet er, wie die Mütter aus der Working Class mehr Geduld mit ihren Kleinen haben, weil es für sie schlimmer sei, dass sie ihren Mut verlören, als dass sie sich den Hals brächen.
Bildet New York nur eine kurze Zwischenstation, so reicht die lange Zugfahrt quer durch den Kontinent nach San Francisco dazu aus, um die Dimension des Landes ebenso zu erfassen wie die die soziale Abgrenzung der Emigrantengruppen untereinander, die nach einem subtil ausgeklügelten System sogar bereits in der Neuen Welt formalisiert ist. Stevenson hat ein Auge für die Ureinwohner, denen er immer wieder begegnet und deren Schicksal er ebenso anprangert wie er einer Romantisierung der Siedlergeschichte und des Goldrausches mit seinen bestialischen Kämpfen den Boden entzieht. Trotz seines scharfen Blickes und manch kalter Analyse werden die Beobachtungen getragen von einem hohen Respekt gegenüber den Leistungen der Zivilisation und einem großen Humanismus. Und auch Stevenson trägt zu der Erkenntnis bei, dass die Emigration zu den großen Labors der Erkenntnis zu zählen ist, in denen das Wesen der menschlichen Existenz studiert werden kann.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-01-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.