„Anfang der 70er fuhren die Wiener noch nach München, um zu sehen, wie es im Westen aussieht. (…)Ewig schade, dass die Mauer fiel, denn jetzt ist überall alles gleich.“ Wirklich alles? Nicht ganz, denn wer als Deutscher in Wien lebt, wird auch heute noch so manches (blaue) Wunder an der (ebenso blauen) Donau erleben und das trotz inzwischen mehr als 30-jähriger „deutscher Besiedlungspolitik“. Die Deutschen in Österreich sollen ja insgesamt - nach den Serben – inzwischen die größte Einwanderergruppe sein, das lässt so manchem Wiener bang werden, um sein „Wiener Herz“, zumal es Deutsche aus dem ehemaligen Osten sind, denen ist Österreich ja auch irgendwie naturgemäß vertrauter.
Der Rheinländer und damit Westdeutsche Stermann, der in Österreich wohl so bekannt ist, wie bei ihm zu Hause ein bunter Hund, zog in den 80igern in die Bundeshauptstadt und hat nun ein Buch darüber geschrieben, wie er diese Insel am Rande Europas damals erlebte. Das erklärte Ziel, das im Untertitel aufscheint, ist wohl aus einem Deutschen, einem Piefke, einen Wiener oder zumindest einen Österreicher zu machen und tatsächlich hat Stermann in seinen Wiener Lehr- und Wanderjahren in den 80ern doch einiges von seinem Gastland mitgekriegt: das „goschert sein“ zum Beispiel, das österreichische Pendant zur typisch deutschen Geschwätzigkeit, man könnte auch sagen zum „Sprüche klopfen“, das können die ja, die Deutschen, zumindest die Wessies.
Interessant eigentlich dass Stermann dann in seinem „Roman“ mit keinem Wort erwähnt, was eigentlich ein Piefke sei und was ihm da eigentlich ausgetrieben werden müsse, bei der „Ent-piefkenisierung“, ihm, dem Piefke. Der Begriff stammt nach einer hier nicht näher zu erläu-ternden Quelle von dem bekannten preußischen Militärmusiker Johann Gottfried Piefke, der den Königgrätzer Marsch zur Feier des preußischen Sieges in der Entscheidungsschlacht von 1866 komponierte und sogar bei der Siegesparade anwesend gewesen sein soll und dorten dirigierte. In Gänserndorf, in der Nähe von Wien soll es sogar ein Denkmal für eben diesen Piefke geben, wenn das Stermann gewust hätte! Dirk Stermann hingegen ist wirklich gut inte-griert, sogar assimiliert und hat viel an Insider-Wissen über Wien zusammengetragen, sodass seine Leserzielgruppe wohl vor allem auch Deutsche sein könnten, die etwas mehr über die Wiener wissen wollen als nur das, was sie in ihrem Baedeker nachlesen können.
„Wiien. Wiie`n Tortenstück. (…)Dirk mit dotterweichem D wie Damentoilette.“ Seine Initiation erhält der Deutsche mit dem komischen Vornamen jedenfalls beim Wirt`n um`s Eck als er zwei sturzbetrunkene („angschütte“) Frauen („Weiber“) nach der Sperrstunde nach Hause bringt. Die eine ist ihm sogar so dankbar, dass daraus dann gleich ein Job als freier Mitarbeiter beim ORF, dem österreichischen Staatsfunk, wird, aus der sich später Stermanns eigentliche Karriere als Kabarettist herausentwickeln sollte. Doch davon findet sich in seinem „Roman“ kein Wort, auch nicht von seinem Kompagnon, Grissemann, es sei denn er wird unter einem Pseudonym beschrieben, das entzieht sich meiner Kenntnis. Das Wiener Vokabular wird bald durch Schimpfwörter (wie oben), dann auch durch Spezialausdrücke wie etwa „Holzpyjama“ (für Sarg) erweitert. Warum es so kam, wie es kommen musste, mit Wien, erklärt dem „Zuagrastn“ Stermann die besagte Toni, Stermanns Mentorin beim ORF: „Wien ist ein Melting Pot wie New York. Aber bei uns hier haben sich nur die depressivsten Völker vermischt. Arme Slowaken mit desillusionierten Polen, halbverhungerte Ruthenen mit ängstlichen Tschechen. Die Balkanesen haben ihre Wut mitgebracht, die Ungarn ihre Lebensmüdigkeit. (…) Wir sind ein kleines Land mit großen Bedürfnissen.“
Stermanns Begegnungen mit der Wiener Bürokratie wegen eines verlorenen Meldezettels oder seine „Wie spät ist es?“-Frau schmücken einen etwas eher dürftigen Plot aus, der hauptsächlich aus der Aneinanderreihung vielzitierter Anekdoten und Zitate besteht. Und was macht man, wenn man von aller Welt verachtet wird? Man drischt selbst runter, etwa auf die Vorarlberger Freundin eines Freunds oder einen Vorarlberger Kollegen beim ORF, der in jedem Bezirk eine wichtige Person finden muss und schon in Favoriten aussteigt. Am Ende seines „Romans“ trommelt Stermann ein Fußballmatch zwischen Deutschen und Österreichern zusammen und einige seiner Staatsbürgerkollegen ringen bald mit ihrer eigenen Identität. Für wen sollen sie nun spielen? Ihr Gastgeberland oder das Land, das sie schon vor langem verlassen haben und dessen Botschaft von Bayern belagert wird? Wer da kein schlechtes Gewissen bekommt!
Insgesamt ist Dirk Stermanns Romandebüt natürlich amüsant und lesenswert, auch wenn es gegen Ende wirklich einige Längen hat. Die Mischung aus Privatleben und Historischem aus dem Gastland ist meines Erachtens besonders für Urlauber in Österreich geeignet, die Stermann den Kabarettisten und Österreich das heute „verpiefkesierte“ Gastland immer noch nicht kennen. Besonders zu empfehlen sind in jedem Fall Stermanns Lesungen aus seinem Buch, denn mit seiner tiefen Radiostimme kommen die Pointen ganz bestimmt noch viel besser rüber, als wenn man seinen Roman selbst liest. Die tirolerische Aussprache des Interrogativpronomens „Welcher?“ muss Stermann allerdings noch lernen. Bei seiner Buchpräsentation im Wiener WAF ging die Pointe eines Deutschen der einen Tiroler nach dem Namen eines Berges fragte nämlich leider unter: „Wölchar?“ „Ah, danke!“
Dirk Stermann
Sechs Österreicher unter den ersten fünf
Roman einer Entpiefkenisierung
272 Seiten, € 16,95 [D]
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-01-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.