Warum verlassen Menschen von einem Tag auf den anderen alles, was sie haben, ihre ganze Familie und verschwinden einfach? Was macht das mit ihnen selbst, und wie geht es denen, die zurückgelassen werden?
Mit dieser Frage beschäftigt sich der neue kleine Roman von Peter Stamm. Er handelt von Astrid und Thomas. Die beiden haben zwei Kinder und nennen ein Haus ihr Eigen, führen ein ganz normales Leben. Bis offensichtlich für beide überraschend, Thomas eines Tages abends das Haus verlässt und nicht mehr wiederkommt.
Dass Menschen ihre Lieben auf diese Weise zurücklassen ohne sich ihnen zu erklären, geschieht öfter, als man denkt und ist deshalb auch in der Literatur ein bekanntes Thema. Pascal Mercier hat es in „Nachtzug nach Lissabon“ vor vielen Jahren beschrieben und Stefan Slupetzky hat in diesem Jahr in „Der letzte große Trost“ eine sehr interessante Version vorgelegt.
Peter Stamm erzählt von den Tagen und Monaten nach Thomas` Verschwinden in zwei Strängen. Zum einen beschreibt er mit den für ihn bekannten ausufernden Naturbeschreibungen umrankt, den Weg und die Gedanken von Thomas und zum anderen die Gefühlswelt und die Gedanken seiner zurückgelassenen Frau Astrid. Ohne wörtliche Rede beschreibt Peter Stamm in einer sehr emotionslosen und nüchternen Sprache den Weg von Thomas und wie das Leben von Astrid weitergeht. Dem Leser bleibt eigentlich bis zum Ende unklar, warum er gegangen ist und es bleibt ebenso irritierend, dass und wie Astrid zu dem ermittelnden Polizisten Patrick eine ganz besondere Beziehung entwickelt. Auch die zahlreichen Rückblenden bringen da wenig Aufklärung, machen aber die Figuren plastischer. Dennoch kommen sie einem beim Lesen nie wirklich nahe.
Im letzten Drittel des Buches verschwimmen die Handlungsstränge von der Realität hin zu einer möglichen oder fantasierten Zukunft. Auch hier, wie in den ersten Teilen des Buches bleibt dem Leser erheblicher Interpretationsspielraum, den Peter Stamm offensichtlich bewusst so beabsichtigt.
Keine der Figuren wächst dem Leser wirklich ans Herz. Sie bleiben in ihrem Handeln fremd und kühl. Ihr Leben geht weiter aber die Ungewissheit bleibt. „Weit über das Land“ ist ein Buch über die Rätselhaftigkeit des Lebens. Ein Leben, in dem sich über Nacht Abgründe auftun können, die auf immer unverständlich bleiben.
Ein Buch, das mich jedenfalls ein wenig ratlos zurückgelassen hat.
Peter Stamm, Weit über das Land, S. Fischer 2016 , ISBN 978-3-10-002227-1
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-04-21)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.