Natürlich findet sich unter M wie Madeleines auch das dazugehörige Stichwort aus dem Mammutwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. -„Kleiner süßer Kuchen aus einem mit flüssiger Butter verfeinerten Biskuit-Teig“, heißt es hier. Aber jeder Proust-Kenner weiß, dass es dabei um viel mehr geht.
Madeleines und Memoiren
Immerhin haben die Madeleines durch Proust nachhaltigen literarischen Ruhm erhalten. Die in einen Tee getunkte Süßspeise wird nämlich zum Auslöser für eine unwillkürliche Erinnerung, die „das ganze Combray der Kindheit für den Erzähler auferstehen lässt“, so der Lexikon-Eintrag vorliegenden Proust-ABCs, der sich über zwei Seiten hinwegzieht. Der vergessene Geschmack des Madeleine vermag es, einen ganz konkreten Moment der eigenen Biographie (wieder)herzustellen. Aber „Petite Madeleine“, wie es Proust selbst schrieb (mit groß geschriebenem Adjektiv, steht als Initialen auch für den Autor selbst. Natürlich gibt es auch andere Deutungsangebote, etwa die Muschelform der Madeleine oder das Symbol der Wandlung in der Heiligen Komm, die ebenfalls durch ein Teiggebäck ausgelöst wird. Durch sie kann der Dichter sich endlich von seiner kindlichen Abhängigkeit und Verlustangst erlösen und zum Schreiben gelangen. Wie dem auch sei, die Vermischung von Flüssigem (Tee) und Festem (Madeleine) hat schon so manchen Transformationsprozess ausgelöst.
Keine Sehnsucht nach Realismus
Ulrike Sprenger legt mit ihrem Proust-ABC ein detailliertes und durchdachtes Proust-Lexikon vor, das jeden Eintrag gut erklärt und über allfällige Begriffsdefinitionen sogar noch hinausführt. Die Einträge lesen sich spannend, unterhaltsam und sind intelligent. Selbst das Stichwort zum schnöden Geld gibt Aufschlüsse über Prousts Werk, aber auch seine Persönlichkeit. Geschweige denn das Stichwort Alkohol: „Die vom Rausch übersteigerten Empfindungen stehen unter dem flüchtigen und machtvollen Einfluss des Augenblicks“, so Proust. Und obwohl sie Erinnerungen (also der Beschwörung der verlorenen Zeit) abträglich sind, diese Räusche, trank er doch hin und wieder gerne mal selbst ein kaltes Bier. „Noch nie jedoch hat sich die Sehnsucht nach Realismus gerichtet“, schreibt Alexander Kluge im lesenswerten Vorwort. Aber gerade die durch die Quarantäne verursachte Introspektion gebiert jene Fantasien, die einen guten Schriftsteller ausmachen. Marcel Proust ABC: ein Nachschlagewerk zum Verlieben.