„La vierge corrigeant l`enfant Jesus devant toris temoins: Andre Breton, Paul Eluard et le peintre“ ist der etwas lange geratene Titel eines der berühmtesten Werke von Max Ernst und zeigt eine Pieta, aus einer einmal etwas ganz anderen Perspektive. Wie kein anderes surrealistisches Gemälde beinhaltet dieses 1926 entstandene alle Ingredienzien, die den Surrealismus ausmachen: Andre Breton, Tabubruch und Perspektivenwechsel. Der leicht gerötete Hintern des Jesuskindes ist dabei nur die allzu sichtbarste, zentralste Seite des Skandals, der viel subtilere ist der dem Jesuskind auf den Boden fallende Heiligenschein, nach dem es noch versucht zu greifen, während Maria auf seinen Allerwertesten eindrischt und ihr Heiligenschein unbewegt in perfekt an ihre Körperneigung angepasster Position auf ihrem Kopf bleibt und eben nicht verrutscht. Dahinter stehen hinter einer Art Paravent die drei Künstler, die durch ein in den Wandschrank geschnittenes Küchenfenster die Szenerie (wohl heimlich) beobachten. Der Blick durch das Schlüsselloch ist ja seither ein beliebtes Sujet, das nicht erst von den Surrealisten entdeckt wurde, gebiert er doch so wie der Schlaf Monster ebensolche Ungeheuer: Das Kind etwa, das durch das Schlüsselloch in das Elternschlafzimmer blickt und dabei Unfassbares sieht und durch des älteren Bruder behutsam auf die Schulter gelegte Hand ertappt wird.
„Traum und Revolution, Dream and Revolution, Reve et Revolution“ der Titel des vorliegenden Werkes wurde einem Bild Max Ernsts entliehen, das aus einer späteren Schaffensphase stammt, es ist mit 1945/46 datiert und zeigt eine phrygische Mütze als Grundlage der Malerstaffelei, der Palette, vielleicht auch, um darin die Farbe für das Werk zu mischen. Eine graue Ampel, Stäbe und zwei Leinwände machen das restliche Dekor dieses schwer verständlichen Bildes aus, auf einer der Leinwände ist ein Walt angedeutete, auf der anderen eine Art Alien. Malerei spiele sich laut Ernst vor allem auf zwei Ebenen ab: „Aggressivität und Erhebung“ und beides ist natürlich auch in Buch- resp Filmtitel enthalten. Man kann es auch so wie Werner Spies in seinem Geleitwort deuten und Dada und Surrealismus als entsprechendes Begriffspaar setzen, das quasi die Antipoden des Lebens von Max Ernst markieren. Für die Dadabewegung war er der große Star, bei den Surrealisten, einer zuerst eher literarischen Bewegung, war er der Ausnahmemaler, auch wenn sich bald andere der Bewegung anschließen sollten. Das Tolle bei Max Ernst war sicherlich, das er seine Techniken immer wieder weiterentwickelte und sich nie auf einen bestimmten Stil festschrieben ließ, und man trotzdem jedes seiner Werke unweigerlich als einen echten Max Ernst erkennt.
Das revolutionäre Lebenswerk Max Ernsts wird in dieser Publikation genauso aus neuen Blickwinkeln betrachtet, wie der Surrealist selbst versuchte, die Welt neu zu betrachten und perspetkivenreich zu porträtieren. Seine „Dada“-Jahre in Köln, sein Aufenthalt in Frankreich 1921–1941 und seine Bedeutung im Kreise der Surrealisten in Paris, das Jahrzehnt in amerikanischem Exil und die Zeit nach seiner Rückkehr nach Europa bis zu seinem Tod werden in vorliegender Publikation von verschiedenen Autoren dargestellt. Vertiefende Beiträge von Ernst-Spezialisten widmen sich zentralen Aspekten seines Schaffens, etwa den experimentellen Techniken, den geheimnisvollen Collageromanen oder dem fantastischen bildhauerischen Werk. Darunter finden Sie Artikel von Ludger Derenthal, Julia Drost, Benajmin Meyer-Krahmer, Iris Müller-Westermann, Jürgen Pech, Werner Spies und Tanja Wessolowski.
Ein Beitrag widmet sich etwa Max Ernsts Spiel mit der Dekalkomanie, einer Malmethode, der er sich vor allem in seinem amerikanischen Exil widmete. Zu einem der bekanntesten Werke aus dieser Periode zählt etwa die „Heimsuchung des Hl. Antonius“, die den Heiligen als von kleinen grünen Monstern umgebenen und okkupierten fast zerrissenen Leichnam zeigt. „Sie (die Monster, JW) haben sich in seinem Schoß festgesetzt, als seien sie seine eigene Leibesfrucht“, schreibt Ludger Derenthal in seiner Interpretation des Bildes. Man merkt dem Bild an, dass es von den amerikanischen Landschaften des Grand Canyon oder Tropfsteinhöhlen beeinflusst wurde. Dekalkomanie bedeutet eigentlich „Abziehbild“, vom Französischen „décalcomanie“. Es ist ein Abklatschverfahren, bei dem ein Papierbogen auf ein mit wässeriger Farbe bestrichenes Zeichenblatt gelegt und dann wieder abgezogen wird. Später sollte sich der Maler in die Wüsten Arizonas verabschieden und sich dort noch andere Inspirationen holen, die sein Werk maßgeblich beeinflussten.
Max Ernst (1891–1976) war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Er wurde nicht nur durch die beiden Weltkriege, sondern auch durch persönliche Schicksalsschläge geprägt. Ernst hat sein Ausdrucksrepertoire während seiner gesamten künstlerischen Karriere immer wieder hinterfragt, verändert und ungeheuer erfindungsreich über die Möglichkeiten der Kunst im 20. Jahrhundert reflektiert. „Seine vielschichtigen Bildwelten erscheinen heute relevanter als jemals zuvor: Ein junges Publikum wird Verbindungen entdecken können von Ernsts Fantasiewelten zu eigenen Reisen in die Cyberwelten moderner Computerspiele“, schreibt der Verlag in seinem Katalogtext.
Dieses Werk liegt auch in einer englischen Ausgabe beim selben Verlag vor (ISBN 978-3-7757-2235-3). Es ist in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und dem Lousiana Museum of Modern Art entstanden. Die Ausstellung ist zu sehen in: Moderna Museet, Stockholm 20.9.2008–11.1.2009 · Louisiana Museum für Moderne Kunst, Humlebæk 7.2.–1.6.2009. Vorliegender Ausstellungskatalog ist im Format 22,70 x 28,70 cm, farbig illustriert und mit vielen Details zu Ernsts Lebenswerk angereichert und stellt ein absolutes Muss für jeden kunstinteressierten Menschen des 21. Jahrhunderts dar. Es ist dies aber nicht nur ein einfacher und qualitativ hochwertiger Ausstellungskatalog, sondern auch eine Einführung in die surrealistische Kunstgeschichte am Beispiel eines ihrer berühmtesten deutschen Vertreter. Wie aus seiner im Anhang befindlichen Biografie ersichtlich, wurde der Maler tatsächlich in Brühl geboren und studierte vorerst in Bonn (!). Erst mit 30 Jahren fand der den Anschluss an die Pariser Surrealisten, die nicht nur ihn, sondern auch die Welt verändern sollten...
Max Ernst: Traum und Revolution.
Werner Spies/Iris Müller-Westermann/Kirsten Degel (Hrsg.)
Hatje und Cantz Verlag www.hatjecantz.de
256 Seiten mit 288 Abbildungen, davon 218 farbig
ISBN 978-3-7757-2234-6.
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2008-11-19)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.