Das ist bekannt: Es gab mal einen Junghegelianer, der davon "träumte, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren" - wie er gerade Lust hatte, "ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden". Dieser Jungehegelianer war natürlich der wort- und wirkungsmächtige Karl Marx, der nur ein paar Jahre, nachdem er das eben angeführte Zitat verfasst hatte, mit seinem Kampfkumpan Friedrichs Engels im Kommunistischen Manifest unter vielem anderen empfahl: "Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau." sowie "despotische[r] Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse", um seinen Traum wahr zu machen. Es war nicht allein Nietzsche, der in "Menschliches, Allzumenschliches" (1878) voraussah, wohin der Versuch, den süßen Traum vom Sozialismus zu realisieren, hinführen würde: Der Sozialismus "begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt". Knapp 100 Jahre, nachdem Nietzsche seine Warnung in die Welt geschrieben hatte, erschien Alexander Issajewitsch Solschenizyns (1918-2008) "Der Archipel Gulag. 1918 - 1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung.", um von genau jener Vernichtung des Individuums zu berichten, die in der (Alp-)Traumzone namens "Sowjetrepublik" seit 1918 (ab 1922 dann "Sowjetunion") betrieben worden ist.
GULAG: Gefängnis-, Erziehungs-, Arbeits- und Vernichtungssystem. Er ist die Essenz der kommunistischen Ideologie, ohne die es - so Solschenizyn - die "millionenfache Untat" nicht gegeben hätte. Die Ideologie, die das Gewissen reinwäscht, weil sie das beste zu erreichen vorgibt und die heutigen Morde mit morgen zu erwartender Glorie entschuldigt - ohne je über das "heute" hinauszukommen... Im Gegensatz dazu stellt Solschenizyn, der selber im GULAG gesessen hat und bereits 1962 mit seiner GULAG-Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" debütierte, Shakespeares Bösewichter: sie machten "bei einem Dutzend Leichen halt.". Was waren das für laue Gestalten!
Solschenizyns Buch ist lang, nicht frei von Wiederholungen, aber bei weitem nicht erschöpfend. Der Autor weiß ja, dass er nicht alles gesehen, sich nicht an alles erinnert hat - er ist ja auch nur ein Einzelner, der Zeugnis vom GULAG ablegt: Als Einzelner und zugleich über dem Einzelnen stehender Historiker (wieder ein Einzelner). Er berichtet von den nächtlichen Verhaftungen, Verhören, Verurteilungen und Erschießungen, von "Arbeit und Ausrottung", "Seele und Stacheldraht", von absoluter Rechtlosigkeit und Willkür; von der Kontinuität des bolschewistischen Terrors, der nicht auf die wenigen Jahre des "Großen Terrors" beschränkt war. Das war der Kommunismus.
Einst reagierte einer meiner früheren Geschichtsdozenten ein wenig verdutzt, als ich in einer Seminararbeit schrieb, dass das kommunistische Russland vom Bürgerkrieg zum täglichen Krieg gegen seine Bürger überging. Wieso verdutzt? Das war der Kommunismus.
Aus ökonomischer Sicht war der GULAG noch unrentabler als die "gewöhnliche" kommunistische Wirtschaftsweise mit ihren Zwangskolchosen, Arbeitsplatzbindungen usw.. Als ein Beispiel führt Solschenizyn den von Häftlingen erbauten Weißmeer-Ostsee-Kanal an. Wirtschaftlich war er immer unbedeutend, hat aber tausende Menschenleben - die genaue Zahl wird man heute kaum mehr bestimmen können - gekostet. Maxim Gorki hat diesen Bau mit anderen Autoren im Festband "Der Stalinkanal" (1934) gerühmt. Tod für nichts. Das war der Kommunismus.
Vielleicht noch einmal zurück zum großen Denker Karl Marx, auf den das alles ja irgendwie zurückgeht, auch wenn er es als theoretisch dabeiseiender Betrachter bestimmt nicht so gewollt hätte: Als Akteur wäre er kaum anders als Lenin gewesen. In seinem Hauptwerk beschäftigte sich Marx auch mit der Frage, wie weit der Arbeitstag verlängert werden kann. Wenn man sie nicht ohnehin kennt, ahnt man die höchstmögliche polemische Antwort: "Der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt." (Karl Marx, Das Kapital). Es war damals als Kritik an den brutalen Manchesterkapitalisten gemeint, aber an den einen großen Teil der Menschen versklavenden Kommunisten des 20. Jahrhunderts, diese 24 Stunden so gut es ging für die durch die Theorie sozusagen geheiligte "Arbeit" ohne große Fluchtmöglichkeiten auszunutzen, unter anderem eben im sowjetischen GULAG.
Es ist wichtig, dass dies alles nicht vergessen wird, dass es Menschen wie Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow ("Erzählungen aus Kolyma") gab, die uns die Natur der real existiert habenden größten Utopie der Menschheit anschaulich überliefern - bevor wir, im Angesicht kapitalistischer Exzesse, wieder davon träumen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und einander im blutigen Schaum zu ertränken: weil es so einfach ist.
Die Russen, so scheint es noch heute, erleiden die jeweils herrschende Politik fast wie Naturkatastrophen. Wenn es der Körper nicht kann, dann möchte wenigstens der Geist frei sein und sich selbst bestimmen. Wohl deshalb gibt es so viel großartige russische Literatur - wie Solschenizyns "Archipel GULAG".
Was bleibt nach alledem (was doch nie genug sein kann) zu sagen? Vielleicht ein Satz aus dem Kapitel "Läuterung", der für jeden Menschen wichtig sein kann:
"(...) die Linie, die Gut und Böse trennt, [verläuft] nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien [...], sondern quer durch jedes Menschenherz."
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PS: "Der Archipel GULAG" ist auch in einer gekürzten, vom Verfasser autorisierten Ausgabe erhältlich: "um allen denjenigen die Lektüre zu erleichtern, die in unserer hektischen Gegenwart nicht die Zeit finden würden, das gesamte dreibändige Werk zu lesen".
[*] Diese Rezension schrieb: Arne-Wigand Baganz (2009-12-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.