"Stalin herrschte ein Vierteljahrhundert; Hitler nur ein Achtel. Die Habsburger herrschten hunderte von Jahren." (S. 5). Ein heute kaum noch bekannter Sproß des habsburgischen Stammes, der sich scheinbar außerhalb der Gesetze von Aufstieg und Fall, ja der Zeit, so lange am Leben und an der Macht halten konnte, bis die Gewalt der Moderne ihn nach dem Ersten Weltkrieg auseinanderriss, ist Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen, der 1895 in Pola (heute Pula, Kroatien) geboren wurde und 1948 in Kyiv in sowjetischer Gefangenschaft starb. Eine durchaus bunte, schwer zu fassende Figur mit wechselnden Identitäten, wie sie eigentlich nur Dramatiker erfinden können: Multi-lingual aufgewachsen an der Adria und später im galizischen Zywiec, militärisch ausgebildet im mährischen Hranice na Morave, verliebte er sich im huzulischen Karpatenstädtchen Vorokhta in das ukrainische Volk, erglühte für ihren Freiheitskampf und nahm 1917 gar den ukrainischen Namen Vasil Vyshyvaniy an, der sich von der heute wieder immens beliebten Vyshyvanka-Tracht ableitet. Es kann daher nicht verwundern, dass der US-amerikanische Historiker und Professor an der Yale University Timothy Snyder (* 1969) in Wilhelm Habsburgs Leben ausreichend Stoff für eine Monographie sah. Dass der Autor bedeutendes leisten kann, hat er unter anderem schon mit "The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999." bewiesen, indem er ein großes, durch die jahrzehntelange Vorherrschaft der Russen bzw. der Sowjetunion unterdrücktes und verfälschtes Kapitel der osteuropäischen Geschichte neu beleuchtet und den Faden weiter in unsere post-kommunistische Gegenwart spinnt.
Wilhelms Vater wollte polnischer König werden, deswegen war die Familie aus dem lungenfreundlichen Klima (Tuberkulose war soetwas wie eine Familienkrankheit, auch Wilhelm litt darunter), das die heute kroatische Insel Losinj bot, fortgezogen und hatte sich im polnischen Zywiec, das bis in die Gegenwart vor allem wegen seines gleichnamigen Bieres bekannt ist (die Brauerei ist eine ursprünglich Habsburger Gründung), niedergelassen. Wilhelm entdeckte für sich eine eigene Welt und damit einhergehend auch eine verheissungsvolle Vision für seine Zukunft, nachdem er, wie oben schon angedeutet, in den paradiesischen Karpaten Bekanntschaft mit den Huzulen gemacht hatte. Er erfuhr von Kosakenmythen, wie sie z.B. in Gogols "Taras Bulba" beschrieben sind: Die Kosaken aus dem Saporoger Sitsch erheben sich im 17. Jahrhundert zum Aufstand gegen die Polen. Dass sich Wilhelm für die damals von neben den Russen auch von den Polen unterdrückten Ukrainer entschied, ist sicherlich auch etwas Rebellion gegen den Vater mit seinen königlichen Ambitionen, die nie wirklich wurden, gewesen. Auch Wilhelms Wunsch, einmal König der Ukraine zu werden, blieb jedoch nur Fantasie.
Im Ersten Weltkrieg war Wilhelm in Galizien im Einsatz. Dafür, dass er sich für seine eigenen Soldaten gegen polnische Vorgesetzte und zur Zeit der deutsch-österreichischen Besatzung der Ukraine für das einfache Volk stark machte (er verhinderte u.a. Zwangsrequirierungen von Getreide), gab man ihm den Namen "Roter Prinz", was allenfalls als ironische Anspielung auf den Bolschewismus gesehen werden kann - diese menschenverachtende Sklavenideologie war Wilhelm ein Gräuel. Wilhelm soll den Ruf einer lebenden Legende genossen haben, seine Homosexualität, die Snyder in der vorliegenden Monographie immer mal wieder streift, tat dem keinen Abbruch. Der Galizische Metropolit Andrey Sheptytsky, der sich im westukrainischen Lemberg (Lviv) niedergelassen hatte, wurde zu Wilhelms Mentor.
Snyder schildert, wie Wilhelm mit den Strömungen der Zeit schwankt, wie er von einem Judenfreund zu einem Judenfeind wird, wie er immer Ausschau hält nach potentiellen Verbündeten, die der ukrainischen Sache dienen können, dabei auch an Gestalten aus dem rechten Milieu gerät, im nationalsozialistischen Deutschland zeitweilig einen Verbündeten sieht, der die Sowjetunion zerschmettern und damit einen freien ukrainischen Staat möglich machen kann, und dann doch bald zur Besinnung kommt und im faschistisch besetzten Wien ab 1941 für Großbritannien und Frankreich konspirativ arbeitet, danach auch wieder für seine eigentliche Herzensangelegenheit, den ukrainischen Untergrund, und damit gegen das verhasste Vielvölkergefängnis Sowjetunion.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Wilhelm, weil man ihn verraten hatte, vom stalinistischen Geheimdienst SMERSCH aus Wien entführt und nach Kyiv gebracht. Man verhörte ihn lange und verurteilte ihn zu einer noch längeren Haftstrafe (25 Jahre). Da man ihm über ein Jahr die medizinische Behandlung seiner Tuberkulose versagt hatte, starb er 1948 an ihren Folgen. Sein Tod wurde von den Stalinisten geleugnet.
Heute soll laut Snyder ein kleiner Platz im galizischen Lemberg (Lviv) Wilhelms Wahlnamen Vasil Vyshyvaniy tragen und damit an ihn und sein Wirken für die Ukraine erinnern. Ausfindig machen können habe ich ihn nicht.
Nun aber - fehlt noch ein weiterer Brückenschlag in die jüngere Gegenwart:
Auch der älteste Sohn des letzten Kaisers von Österreich, Otto Habsburg, hat seinen Beitrag zur Stärkung der Freiheit des ukrainischen Volkes getan. Er verkündete Ende 2004, also zur Zeit der Orangenen Revolution, "dass die Zukunft Europas in Kyiv und Lviv entschieden werden würde." (S. 254). Den EuroMaidan 2014 hat Otto nicht mehr erleben können (oder - wenn man nur die vielen Opfer sieht, die er gefordert hat - müssen) - aber seine Worte sind noch immer erstaunlich aktuell.
Die Ukraine gehört zu Europa, die Menschen, die in ihr leben, schauen hoffnungsvoll nach Westen, sie haben die Jahre der Oligarchen und russischen Einflussnahme, der unnötigen Armut, der Rechtlosigkeit und der Korruption satt, sie wollen Frieden und Freiheit für ihr Land, das sie so sehr lieben und das so liebenswert ist. Kein noch so verlogener neo-imperialistischer, multi-militaristischer Putin wird ihnen diesen Traum nehmen können. Er kann sie entführen, foltern, töten lassen und ihnen Teile ihres Landes rauben - sie halten nur noch enger zusammen.
Würde Wilhelm Habsburg in unserer Gegenwart leben - dann kämpfte er als Ukrainer gegen das russische Joch, hätte vielleicht mitgeholfen, den Kurort Slowiansk von dem mörderischen Banditengesindel zu befreien, das heute noch sein Unwesen im Auftrag des Moskauer Imperiums in Luhansk und Donezk treibt.
Nicht nur dank Timothy Snyder wissen wir:
Die Ukraine gibt es wirklich, der Kampf für ihre Freiheit hat eine lange Geschichte. Das Land und seine mutigen Bewohner bedürfen unserer aller Unterstützung.
Freude, schöner Götterfunken
Timothy Snyder
Der König der Ukraine: Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg
(OT: The Red Prince: The Fall of a Dynasty and the Rise of Modern Europe)
Bodley Head, 2008 (dt. 2009 von Brigitte Hilzensauer im Paul Zsolnay Verlag)
ISBN-13: 978-3552054783
Anmerkung:
Die Seitenangaben der Zitate beziehen sich auf die englische Ebook-Ausgabe von Vintage Digital, 2009. Übersetzungen vom Autoren der Rezension.
[*] Diese Rezension schrieb: Arne-Wigand Baganz (2014-08-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.