Grace Eder ist eine international bekannte Neurowissenschaftlerin. Ihr Spezialgebiet ist die Biochemie der Gefühle. Und sie hat darüber viel veröffentlicht und vorgetragen. Selbst jedoch ist diese nach außen so erfolgreiche, attraktive und auch von den Männer begehrte Frau nur schwer imstande, Gefühle zu empfinden, sie zu äußern und sich ihnen gar hinzugeben, geschweige denn gegenüber einem anderen Menschen oder gar Mann.
Eva Gesine Baur, eine vielbelesene und neugierige Schriftstellerin, die sich den originellen Künstlernamen Lea Singer gegeben hat, leicht jüdisch angehaucht, legt in ihrem neuen Roman nichts anderes vor als die Geschichte eines weiblichen Faust. Der Titel des Buches "Mandelkern" ist zum einen eine Reminiszenz an Theodor Storms Weihnachtsgedicht "Knecht Ruprecht" und zum anderen eine Anspielung auf die Mandelkerne (griech.: amygdala), "die als zentrale Elemente unseres Nervensystems sortieren, was von den zahllosen aufgenommenen Informationen in unser Nervenkostüm" eingeht und darüber entscheiden, welche diese Informationen es sozusagen in unseren Langzeitspeicher schaffen. Sie sind also zuständig für den Gefühlshaushalt der Menschen.
Und dieser Gefühlshaushalt ist bei der Protagonistin des Buches schwer durcheinandergeraten. Als sie am Tag vor dem Heiligen Abend (!) alleine in ihrem Labor auf die Ergebnisse eines Versuches wartet, beginnt sie vor sich selbst ihr bisheriges Leben in Frage zu stellen und die Grundlagen, auf die sie es aufbaute. Sie ist zutiefst verzweifelt und ist drauf und dran, sich das Leben zu nehmen. Doch da tritt plötzlich eine Frau in den Raum, sie heißt Lucie ( sc. Luzifer!) und verspricht Grace, ihr das größte irdische Glück zu verschaffen. Eine moderne Faust/Mephisto-Geschichte beschreibt nun die Aufarbeitung der eigenen, tief religiös und kleinbürgerlich verlaufenden Kindheit und den neurowissenschaftlichen Umgang mit Gefühlen.
Lea Singer tut das spannend und sehr nah am ursprünglichen Fauststoff und dennoch höchst aktuell. Mandelkern" ist ein spannender Roman aus unserer Gegenwart, in der mehr und mehr auch für Frauen gilt: Karriere ist alles.
Auch die Protagonistin Grace Eder folgt diesem Wahn, aber irgendwann genügt ihr die Karriere nicht mehr. Dieses originell und zeitweise witzig geschriebene Buch beschreibt, den Faust-Mythos aufgreifend und fortfahrend, den Versuch dieser Neurowissenschaftlerin, ihrem Leben einen anderen Sinn zu geben. Dabei überzeugt Lea Singer nicht nur durch auf hohem Niveau angesiedeltem wissenschaftlichen Wissen ( sie selbst ist mehrfach promoviert), sondern ihr Roman zeugt von großer und tiefempfundener menschlicher Klugheit.
Und obwohl es einen rasanten Wechsel von unterschiedlichen Schauplätzen gibt, bleibt sich Leas Singers Heldin gleich. Jener Drang nach Erkenntnis, der Drang auch, alles zu entzaubern und nichts mehr für heilig und einfach verehrungswürdig zu halten, man kann ihn "faustisch" nennen, ein Drang, der unsere Welt an den Abgrund bringt und der jetzt auch die Frauen erreicht hat.
Ein Buch, das man durchliest ohne eine Unterbrechung.
Lea Singer, Mandelkern, DTV 2013, ISBN 978-3-423-21465-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-09-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.