„Wir beziehen das letzte freie Hotelzimmer, das Ika gegen eine kleine Zuwendung bekommen hat, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die Kälte hat mich mindestens um 1,5 Promille zurückgeworfen“, schreibt Siemes in einer der 56 Episoden aus seinem Leben als Alkoholiker und Reklametexter. Im Untertitel werden die beiden Selbstbezeichnungen als Gegensatz dargestellt, dabei müsste man sich doch eher fragen, ob das eine ohne das andere überhaupt möglich wäre. Siemes Geschichten lassen daran jedenfalls wenig Zweifel, dass das eine für das andere gewissermaßen eine conditio sine qua non ist.
Im Casino in Wien
Als der Protagonist, der wohl kein alter ego ist, in Wien auf einer Dienstreise die Marke „Milde Sorte“ bewerben muss, steigt er im Casino auf der Kärntner Straße ab und ordert immerhin drei Flaschen Champagner. Vom damaligen Chef des Casinos schreibt er: „Obwohl Österreicher war er immer preußisch korrekt und erwartete von mir weder größere Geschenke noch Umschläge, was für die Werbung keineswegs üblich ist.“ Nachdem er beim Setzen auf eine Transversale immerhin 11.000 Schilling gewonnen hat, vergnügt er sich in einem Etablissement, wo die Mädchen „passabel aussehen, was nicht auf die Beleuchtung zurückzuführen ist“. Nach einer vergnügten Nacht mit den Wiener Auftraggebern für seine Werbekampagne wird der Auftrag aber dann doch zurückgezogen, was Siemes am Ende zumindest als ehrlichen Mann dastehen lässt. Kein schlechter Tausch, dafür aber ziemlich teuer, wenn man bedenkt, dass jedes Foto der Kampagne 5000 Mark wert gewesen wäre.
Entzug in der Klinik
Nach Selbstgesprächen mit seinem erklärten Lieblingsfeind in München, wird es schließlich Zeit für die ersten Therapieversuche. Aber diese bestehen meist darin, den „Patienten“ von seiner Umwelt so lange wie möglich zu isolieren, „damit man tagelang mit sich selbst allein sein kann, um über sich selbst nachzudenken. (…) Das Sucht-Ich oder der Todfeind soll systematisch aus deinem Leben verdrängt werden.“ Nach drei Jahren Internierung soll es sogar möglich sein, ihn zu eliminieren, aber natürlich hält das keiner durch. Die Erfolgsquote dieser „Langzeittherapie“ liegt bei immerhin 20%, so Siemes. Erziehungswissenschaftler hätten längst bewiesen – so der Autor – dass es viel effektiver und ökonomischer sei, den Einzelnen zu fördern – „statt in einer Gruppe oder Klasse einen vermeintlich bewährten Lehrplan durchzuboxen“. Auch die einzelnen Gruppenmitglieder gingen nicht gerade zimperlich miteinander um und würden aufeinander hinabblicken. „Süchte machen nicht nur krank. Sondern auch sehr, sehr dumm.“
Lebensrettend?
Die Hochs und Tiefs eines Lotterlebens als Reklametexter und/oder Alkoholiker werden in einer Sprache mit vielen Hauptsätzen beschrieben. Die Kapitelüberschriften sollen neugierig machen, stellen Fragen oder nennen Dinge beim Namen über die man gerne mehr erfahren würde. Seine Frau rettet ihm nach zwei Wochen ununterbrochener leiser Alkohol Vergiftung schließlich das Leben, indem sie ihn unter Verweis auf Suizidgefahr erneut in eine Klinik einliefern lässt. Natürlich verflucht er sie dafür. Aber er hat ihr viel zu verdanken, auch wenn es bis zur Veröffentlichung seines Buches nicht mehr reichen sollte. Immerhin konnte er es so noch schreiben und vielleicht andere vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. Ein Buch das betroffen macht und ein Thema in den Mittelpunkt rückt, das immer noch sehr tabuisiert ist. Denn nicht nur Reklametexter haben solche Süchte.
Reinhard Siemes
Mein Todfreund, der Alkohol. 56 Episoden aus dem Leben eines Reklametexters, der auch Trinker war. Und eines Trinkers, der auch Reklametexter war.
Avedition, 17x24cm, 320 Seiten
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-10-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.