Er stammt aus Wales, wo er auch einen Teil der Handlung seines hier anzuzeigenden Romans spielen lässt, ist 41 Jahre alt und hat in vielen großen Zeitungen und Zeitschriften seines Heimatlandes in der Vergangenheit Reportagen veröffentlicht. Schon Owen Sheers erster Roman („Resistance“) wurde in 10 Sprachen übersetzt (die deutsche Version wird sicher von DVA nach dem Erfolg des zweiten bald in Angriff genommen werden) und sein neuer Roman „I saw a man“ schickt sich an, noch erfolgreicher zu werden.
Owen Sheers Roman ist ein Thriller, der es an Spannung mit den ganz großen des Genres aufnehmen kann. Kaum hat man das Buch aufgeschlagen, ist man vom ersten Satz an in den Bann gezogen:
„Der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte, ereignete sich an einem Samstagnachmittag im Juni, kurz nachdem Michael Turner - in der Annahme, es sei niemand da - das Haus der Nelsons durch die Hintertür betreten hatte. London ächzte unter einer Hitzewelle. Überall im South Hill Drive standen die Fenster offen, und das Blech der Autos war so heiß, dass die Schweißnähte in der Sonne knackten.“
Doch Michael Turner ist kein Dieb und Einbrecher, sondern er will als guter Nachbar und Freund von Josh und Samantha Nelson sich nur einen ausgeliehenen Schraubenzieher zurückholen. Scheinbar ist niemand zu Hause, obwohl die Hintertür offen ist. Und so macht er sich auf die Suche.
Owen Sheers schafft es bis weit über die Hälfte des Buches, den Leser über diesen „Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte“ im Unklaren zu lassen, über das, was in diesen kurzen Augenblicken, als Michael Turner in dem Haus unterwegs ist und die Treppen hochsteigt, geschieht. Das steigert die Spannung ins fast Unerträgliche und motiviert den Leser, ohne Pause weiterzulesen: in vielen Rückblenden erzählt Owen Sheers die Lebensgeschichte von Michael und seiner Frau Caroline, und wie Michael die Nelsons kennengelernt und mit ihnen Freundschaft geschlossen hat.
Michael Turner ist Journalist, dessen Spezialität es ist, dass er für seine durchaus erfolgreichen Reportagen sozusagen eintaucht in das soziale Feld, das er dann beschreibt. So entstand auch sein erstes Buch „BrotherHoods“ über zwei Brüder in New York City, das zu einem Weltbestseller mutiert. Seine Frau Caroline war über viele Jahre als „embedded journalist“ für verschiedene Fernsehsender in allen Krisenherden der Welt unterwegs, suchte regelrecht die Gefahr. Sie ist, als sie mit Michael nach Wales in ein kleines Cottage zieht, mit ihrer Arbeit für eine kleine Produktionsfirma nicht zufrieden, und so ist es fast zwangsläufig, dass sie sofort zusagt, als in ihrer Firma ein Auftrag für Dreharbeiten in Pakistan zu vergeben ist. Dort wird Caroline von einer US-Drohne getötet.
Sehr bald schon führt Owen Sheers mit Major Daniel McCullen jenen Mann ein, der von einer geheimen Einsatzzentrale in den USA den Einsatz jener Drohne steuerte, die Caroline und ihr Team tötete und dessen Leben damit ins Wanken gerät. In diesen Teilen des Buches erfährt der Leser viel Kritisches über die Drohnen-Politik der USA.
Immer wieder wechselt der Blinkwinkel zwischen der Szene im Haus der Nelsons, dem Leben Daniel McCullens und der Vergangenheit Michaels hin und her. Vor allen Dingen führt Owen Sheers, die Spannung immer weiter steigernd, den Leser erzählend an die Jetztzeit heran. Denn Michael hat nach Carolines Tod Wales verlassen und in London in Hampstead Heath die Wohnung eines Freundes gemietet. In seinen Nachbarn Josh und Samantha Nelson findet er eine Art Familie. Dauernd laden die beiden ihn ein zum Essen und er wird auch für die beiden Töchter zu so etwas wie einem väterlichen Freund. Mit der Zeit spürt Michael, dass es in der Ehe der Nelsons nicht stimmt, ohne dass er dem weiter nachgeht.
Josh arbeitet sehr erfolgreich bei der Lehman Brothers Bank, und, da die Gegenwartshandlung im Jahr 2008 spielt, ahnt der Leser bei der ersten Erwähnung von Joshs Beruf, was bald kommen wird. Für seine Frau Samantha, als studierte Fotografin wegen der beiden Töchter eine eher frustrierte Hausfrauenexistenz mit vielen Cocktailparties führend und den nicht nur dort viel Alkohol konsumierenden Josh kommt Michael als nachbarlicher Freund gerade recht. Wenn er da ist, sind sie von ihren Problemen abgelenkt und ihre beiden Töchter freuen sich.
Irgendwann am Ende der ersten Hälfte des Buches sind die Vorgeschichten erzählt und der das Leben der Protagonisten verändernde Vorfall geschehen. Nun kommt Owen Sheers, die Spannung nur unwesentlich reduzierend zum eigentlichen Thema des Buches über die Folgen eines einzigen schicksalhaften Moments. Für die drei Männer, Josh, Michael und auch Daniel, von denen jeder einzelne in einem solchen Moment schuldig geworden ist, geht es nun darum, mit dieser Schuld umzugehen. Schuld, die sich in allen drei Fällen mischt mit großem Verlust und sie unabhängig voneinander, aber auch in zartem Kontakt miteinander zwingt, sich ihrer Schuld zu stellen.
Mit einem sehr überraschenden Ende bindet Owen Sheers seine Kompositionsfäden zusammen und hinterlässt beim Leser den Eindruck, gerade ein großes Stück Literatur gelesen zu haben.
Man darf auf die Verfilmung dieses Stoffes gespannt sein. Die Filmrechte sind jedenfalls schon verlauft.
Owen Sheers, I saw a man, DVA 2016, ISBN 978-3-421-04669-7
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-03-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.